Atlantis
seine Brille noch in der Jackentasche ist. Das ist sie. Der Umschlag ist auch drin, ein dicker Umschlag mit lauter knisternden Zwanzigdollarscheinen. Fünfzehn Stück. Demnächst ist wieder ein kleiner Besuch von Officer Wheelock fällig; Willie hat ihn schon gestern erwartet. Vielleicht taucht er erst morgen auf, aber Willie wettet, dass er heute kommt … nicht, dass es ihm gefällt. Er weiß, dass es nun mal so ist auf der Welt, man muss die Räder schmieren, wenn man will, dass der Wagen rollt, aber es ärgert ihn trotzdem. An vielen Tagen denkt er, wie schön es wäre, Jasper Wheelock eine Kugel in den Kopf zu jagen. So, wie es manchmal im Grünen gelaufen ist. Wie es da laufen musste . Diese Sache mit Malenfant zum Beispiel. Diesem abgedrehten Arschloch mit seinen Pickeln und seinen Karten.
O ja, im Busch ist alles anders gewesen. Im Busch musste man manchmal was Schlimmes tun, um noch Schlimmeres zu verhüten. So was zeigt einem zweifelsohne schon von vornherein, dass man am falschen Platz ist, aber wenn man erst mal in der Scheiße steckt, muss man halt schwimmen. Er und seine Männer von der Bravo-Kompanie waren nur ein paar Tagen mit den Jungs von der Delta-Kompanie zusammen, daher hatte Willie nicht viel Erfahrung mit Malenfant, aber dessen schrille, durchdringende Stimme ist schwer zu vergessen, und ihm fällt wieder ein, was Malenfant bei seinen endlosen Hearts-Spielen immer gebrüllt hat, wenn jemand eine Karte zurücknehmen wollte, die bereits ausgespielt war: Kommt gar nicht in die Tüte, du blöder Sack! Was liegt, das liegt!
Malenfant ist vielleicht ein Arschloch gewesen, aber in dem Punkt hatte er recht. Im Leben wie bei den Karten - was liegt, das liegt.
Der Fahrstuhl hält nicht im vierten Stock, aber die Vorstellung, dass es passieren könnte, macht ihn nicht mehr nervös. Er ist oft mit Leuten in die Eingangshalle hinuntergefahren, die auf der gleichen Etage arbeiten wie Bill Shearman - unter anderem auch mit dem halben Hemd von Consolidated Insurance -, und sie erkennen ihn nicht. Sie müssten ihn eigentlich erkennen, er weiß, dass sie ihn erkennen müssten , aber sie tun es nicht. Früher hat er immer gedacht, es läge an den anderen Klamotten und der Schminke, dann ist er zu dem Schluss gekommen, dass es an den Haaren liegt, aber im tiefsten Innern weiß er, dass das alles keine Erklärung dafür ist. Nicht einmal ihre tauben Herzen, ihre Unempfänglichkeit für die Welt, in der sie leben, ist eine Erklärung
dafür. Was er tut, ist einfach nicht so radikal - Drillichhosen, Springerstiefel und ein bisschen braune Schminke sind noch keine Verkleidung. Er weiß nicht recht, wie er es sich erklären soll, und deshalb lässt er es meist auf sich beruhen. Diese Technik - wie so viele andere auch - hat er in Vietnam erlernt.
Der junge Schwarze steht noch immer draußen vor dem Eingang (er hat jetzt die Kapuze seines schmutzigen alten Sweatshirts aufgesetzt) und schüttelt Willie seinen zerknautschten Styroporbecher entgegen. Er sieht, dass der Bursche mit dem Werkzeugkoffer in der Hand lächelt, und daher wird sein Lächeln ebenfalls breiter.
»’ne kleine Spende?«, fragt er den Handwerker. »Na, was sagen Sie, Mann?«
»Verpiss dich, du fauler Mistkerl, das sage ich«, erklärt ihm Willie, immer noch lächelnd. Der junge Mann weicht einen Schritt zurück und sieht Willie mit großen, schockierten Augen an. Bevor ihm eine Erwiderung einfällt, ist der Handwerker mit dem klobigen Koffer in der behandschuhten Hand schon einen halben Block weiter und fast im Gedränge der Kauflustigen verschwunden.
10:00 Uhr
Er betritt das Whitmore Hotel, durchquert die Lobby und fährt mit der Rolltreppe zum Mezzanin hinauf, wo sich die öffentlichen Toiletten befinden. Das ist die einzige Phase des Tages, in der er eine gewisse Nervosität verspürt, und er weiß nicht einmal, warum; jedenfalls ist bisher noch nie etwas vor, während oder nach einem seiner Zwischenstopps
auf einer Hoteltoilette passiert (er wechselt regelmäßig zwischen annähernd zwei Dutzend Hotels im Innenstadtbereich). Trotzdem - falls doch mal irgendwas schiefgeht, dann in einem Hotelscheißhaus, da ist er sich irgendwie sicher. Denn was jetzt kommt, hat nichts mit der Verwandlung von Bill Shearman in Willie Shearman gemein; Bill und Willie sind Brüder, vielleicht sogar zweieiige Zwillinge, und den Wechsel vom einen zum anderen empfindet er als sauber und völlig normal. Die letzte Transformation des Arbeitstages jedoch - die
Weitere Kostenlose Bücher