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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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alle unglaublich jung aussehen.

    Heute legt er das Sammelalbum ungeöffnet in die Schublade zurück und nimmt die Stiefel heraus. Sie sind auf Hochglanz poliert und sehen aus, als könnten sie halten, bis die Posaunen des Jüngsten Gerichts ertönen. Vielleicht sogar noch länger. Dies sind keine normalen Armeestiefel, nein - es sind Springerstiefel von der 101. Luftlandedivision. Aber das ist in Ordnung. Er will sich eigentlich gar nicht wie ein Soldat anziehen. Wenn er sich wie ein Soldat anziehen wollte, würde er’s tun.
    Trotzdem gibt es keinen Grund für ihn, schlampig auszusehen, so wie er auch nicht zulässt, dass sich Staub in dem Durchgang ansammelt, und er achtet sehr auf seine Kleidung. Natürlich steckt er die Hosenbeine nicht in die Stiefel - er will im Dezember auf die Fifth Avenue, nicht im August an den Mekong, Schlangen und Blutsauger sind hier wohl kaum ein Problem -, aber er möchte gern ordentlich aussehen. Ein anständiges Äußeres ist ihm ebenso wichtig wie Bill, vielleicht sogar noch wichtiger. Wer seine Arbeit und sein Spezialgebiet achtet, muss schließlich zuerst einmal sich selbst achten.
    Die letzten beiden Dinge sind hinten in der obersten Schublade seines Büroschranks: eine Tube Schminke und ein Fläschchen Haargel. Er drückt ein bisschen Schminke auf seine linke Handfläche und trägt sie dann auf, arbeitet sich mit der sorglosen Schnelligkeit langer Erfahrung von der Stirn zum Halsansatz vor und verleiht sich eine dezente Bräune. Anschließend reibt er sich etwas Gel in die Haare und kämmt sie dann wieder, sodass der Scheitel verschwindet und sie straff aus der Stirn nach hinten gekämmt sind. Das ist der letzte, kleinste und vielleicht wirkungsvollste Touch. Nichts erinnert mehr an den Pendler, der vor einer
Stunde aus der Grand Central Station gekommen ist; der Mann im Spiegel an der Rückseite der Tür zu dem kleinen Abstellraum sieht wie ein abgehalfterter Söldner aus. In dem gebräunten Gesicht liegt ein stiller, halb demütiger Stolz, ein Anblick, den die Leute nicht allzu lange ertragen. Er tut ihnen weh. Willie weiß, dass es so ist; er hat es gesehen. Er fragt nicht, warum es so ist. In dem Leben, das er sich aufgebaut hat, gibt es nicht viele Fragen, und so gefällt es ihm.
    »Okay«, sagt er und schließt die Tür zum Abstellraum. »Siehst gut aus, Soldat.«
    Er geht zum Schrank zurück und holt die rote Wendejacke und den klobigen Koffer heraus. Die Jacke hängt er fürs Erste über den Schreibtischstuhl, den Koffer stellt er auf den Tisch. Er entriegelt ihn und klappt den Deckel an den starken Scharnieren hoch; jetzt hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit den Koffern, in denen die Straßenhändler ihre gefälschten Uhren und dubiosen Goldkettchen zur Schau stellen. Willies Koffer enthält nur wenige Dinge; eins davon ist in zwei Teile zerlegt, damit es hineinpasst. Ein Schild liegt darin. Außerdem ein Paar Handschuhe, wie man sie bei kaltem Wetter trägt, und ein dritter Handschuh, den er manchmal getragen hat, wenn es warm war. Er nimmt das Paar Handschuhe (die wird er heute brauchen, daran besteht kein Zweifel) und dann das Schild mit der dicken Kordel heraus. Die Kordel führt links und rechts durch Löcher in der Pappe und ist dann verknotet, sodass Willie sich das Schild um den Hals hängen kann. Er schließt den Koffer wieder, ohne ihn zu verriegeln, und legt das Schild darauf - der Schreibtisch ist so voll, dass dies die einzige freie Fläche ist, auf der er arbeiten kann.

    Leise vor sich hinsummend (we chased our pleasures here, dug our treasures there) öffnet er die große Schublade über der Aussparung für die Knie, wühlt in den Schreib- und Lippenpflegestiften, Büroklammern und Notizblöcken und findet schließlich seinen Hefter. Dann rollt er das Glitzerband aus und legt es sorgfältig um das Rechteck seines Schildes. Er schneidet den überschüssigen Rest ab und heftet das glänzende Zeug fest ans Schild. Er hält es kurz hoch, betrachtet es zuerst mit kritischem und dann mit bewunderndem Blick.
    »Perfekt!«, sagt er.
    Das Telefon klingelt, und er erstarrt, dreht sich um und sieht es an. Seine Augen sind auf einmal sehr klein, hart und absolut wachsam. Ein Klingeln. Zwei. Drei. Beim vierten schaltet sich der Anrufbeantworter ein und meldet sich mit seiner Stimme - beziehungsweise mit der Version seiner Stimme, die zu diesem Büro gehört.
    »Hallo, hier ist Midtown Heating and Cooling«, sagt Willie Shearman. »Im Moment kann leider niemand Ihren

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