Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
Vom Netzwerk:
Marktplätze, Werkstätten, Schulen menschenleer. In den Straßen patrouillierten Tempelwächter in schwarzweißen Sarongs und wachten über die Einhaltung des Gebots der Stille und Dunkelheit, das auch für Fremde und Reisende galt. Von Hoteliers, die ihre Gäste nicht von Spaziergängen, Ausflügen, Gesängen und Geschrei abhalten konnten, wurden Bußgelder gefordert wie von allen, die das Gesetz der Stunde verletzten:
    Niemand verlasse an Nyepi sein Haus, seinen Garten. Niemand entzünde Lampen, Fackeln, Feuer oder auch nur ein Streichholz. Alles Leben bleibe hinter Jalousien und Vorhängen in verdunkelten Häusern versteckt, damit den aus der Tiefe des Ozeans, aus Vulkanschloten oder unterirdischen Gesteinslabyrinthen aufsteigenden Dämonen vorgetäuscht werde, daß Bali, die fruchtbarste der mehr als sechstausend bewohnten und elftausend unbewohnten Inseln Indonesiens, längst wieder unbewohnt, ja unbewohnbar sei, eine wüste Stätte, nicht wert, von bösen Geistern und Dämonen heimgesucht zu werden.
    Wehe, wer dieser List ihre Wirkung nahm und in einer solchen Nacht mit Fackeln, besoffenem Gesang, einem Schrei oder Gongschlag zeigte, daß die Insel in Wahrheit von mehr Menschen bewohnt wurde als jemals zuvor in ihrer Geschichte, daß sie, von Vulkanen mit Asche gedüngt, drei und vier Reisernten jährlich trug, daß sie blühte!, geliebt wurde und von Reisenden besucht; ein gesegnetes Land.
    Von oben betrachtet, aus der Flugbahn eines aus dem Meer gestiegenen und ins Meer zurückstürzenden Dämons, mußte der leuchtende Pool einem Stück blauen, wolkenlosen Himmels gleichen, das sich auf dieses gesegnete Land herabgesenkt hatte und nun in seinem strahlenden Licht auch Palmen, Orchideen, Papayabäume und eine Terrasse enthüllte, einen weiß gedeckten Tisch, an dem ich saß, Weingläser, Karaffen und auch den mit Blüten getarnten Zaun, der den Gesetzesbruch der Schwimmerin am Tag der Stille und Dunkelheit zumindest vor den Augen patrouillierender Tempelwächter verbarg.
    Daß nicht nur das gleißende Licht am Grund des Pools, sondern dazu auch das gelegentliche Glucksen der Schwimmbewegungen ein Gesetz brachen, wurde vom Rauschen der Palmwedel übertönt, in denen sich ein Abend für Abend zur gleichen Stunde aufkommender Nachtwind fing. Und dieser Wind pflückte jetzt einige Bougainvillea- und Hibiskusblüten aus den Zweigen des Gartens, trug sie ans leuchtende Wasser und streute sie in die Wellen, die sich um die Schwimmerin ausbreiteten. Sie blickte kurz auf, schwamm weiter.
    Aber was dann ins Wasser flatterte, waren keine Blüten, sondern ein Schmetterling – und noch einer, einer von vielen, die in der auf dem Land lastenden Dunkelheit das Licht suchten, den Tag, und hinabwollten in die Tiefe, zu den Sonnen der Scheinwerfer und in jenem verhängnisvollen Augenblick, in dem ihre Flügel das Wasser berührten, neben der Schwimmerin panisch, ertrinkend um sich zu schlagen begannen. Vor dem blendenden Licht aus der Tiefe erschienen ihre Flügel schwarz – und schwarz wie ein Scherenschnitt auch die Schwimmerin, die innehielt, dann aufrecht im Wasser stand, das ihr nur bis zur Brust reichte, und dem ersten, dann auch dem zweiten Falter ihren Arm bot, um ihn zu retten.
    Die Falter nahmen das Angebot an, und so watete sie an den Beckenrand, legte den Arm, auf dem die erschöpften Luftwesen allmählich wieder zu sich kamen, auf den polierten Stein dieses Randes und begann flüsternd mit den Geretteten zu sprechen, ja flüsterte ihnen etwas zu, Warnungen vielleicht, eine Ermahnung, das Sonnenlicht nicht wieder mit den Strahlen eines Scheinwerfers zu verwechseln, vielleicht sogar Kosenamen, und wartete flüsternd ab, bis die Geretteten endlich auf- und, nach einigen wirren Spiralen, in ihr verlängertes Leben zurückflatterten.
    Aber kaum daß die Schwimmerin ihre Kreise fortsetzen wollte, wollten auch die Falter, nun waren es bereits sechs oder sieben, wieder aus der Nacht in den Tag und trieben am Ende doch wieder nur hilflos flatternd in den Wellen.
    Noch einmal watete die Schwimmerin den Ertrinkenden nach, wurde für den und für den und für den, einen nach dem anderen, zur rettenden Insel, von der einer nach dem anderen mit glitzernden Tropfen behangen wieder aufflog und seine Retterin ins Wasser zurücksinken ließ. Sie schwamm weiter.
    Aber die von den Unterwassersonnen Getäuschten waren nur die Vorhut eines Schwarms gewesen, aus dem sich, noch bevor die Schwimmerin einen weiteren Kreis vollendet

Weitere Kostenlose Bücher