Atlas eines ängstlichen Mannes
Wer verlor, bezahlte. Von einer Ausbreitung des Aufstandes wußte der Händler nichts, riet uns aber, die Kontrollposten der Armee bei Dege und Qamdo zu umgehen.
In welchem Frieden wir den Yilhun Lhatso am Nachmittag des nächsten Tages erreichten. Der See lag in einem Hochtal nur dreizehn Kilometer südwestlich von Maniganggo, aber mit dem Motorgeräusch des Lastwagens, der uns an einem Saumpfad absetzte und dann in einer Staubwolke verschwand, verebbte aller Lärm, selbst das Brausen des Windes in den Nadelbäumen und das Rauschen eines Gletscherbachs – und wich einer Stille, die von dem lichtgrünen Wasserspiegel auszugehen, ja sich von diesem Spiegel zu lösen und über die Baumgrenze bis in die Eisregion aufzusteigen schien.
Kreisförmig in die Erde gepflanzte und durch ein Gewirr von Schnüren miteinander verbundene Stangen, an denen Hunderte
Windpferde
flatterten, Gebetsfahnen, schienen die einzigen Zeichen, daß dieser Ort regelmäßig von Menschen, Wallfahrern oder Hirten, besucht wurde. Das Gebilde aus Holz, Schnüren und mit Mantras beschriebenem Tuch wirkte so leicht, ja schwerelos, als ob es sich mit seinen hundertfach winkenden Fähnchen im nächsten Windhauch in den Himmel erheben und das weglose Ufer ohne jede menschliche Spur zurücklassen würde.
Aber dann sah ich kolossale, unbewegbare Gewichte, riesige Steine, Felsblöcke, die im seichten Wasser oder im Ufersand lagen: Über und über mit einmal bloß handgroßen, dann wieder meterhohen Schriftzeichen behauen, säumten sie nächste wie fernste Uferbereiche und schienen dabei nicht von Menschenhand gemeißelt, sondern wie Erosionsspuren von Wasser und Wind aus dem Stein geschliffen oder wie Flechten gewachsen zu sein. Ein Blick durchs Fernglas zeigte, daß diesen See, der nach unseren Karten drei Kilometer lang und einen Kilometer breit war, ein aus Steinen gefügtes Schriftband umgab, auf dem sich die in Klöstern und Tempeln allgegenwärtige Gebetsformel, die uns Tharchin von den Felsen las, unzählige Male wiederholte:
Om Mani Padme Hum
– das Mantra, in dem nach dem Glauben der Betenden etwas vom Urklang des Universums lesbar und sprechbar wurde. Jede Wiederholung dieser Silben – ob geflüstert oder bloß als Umdrehung einer beschriebenen Papierrolle in einer Gebetsmühle, war einer von unzähligen Schritten in die Befreiung von den Irrtümern, Formen und Gestalten der erfahrbaren Welt.
Wir hatten auf unserem Weg durch Kham frei stehende, den Faltenwurf ganzer Höhenzüge kilometerlang nachschreibende Mauern gesehen,
Manimauern
, errichtet ausschließlich aus Steinen, in die dieses Mantra graviert oder geschlagen worden war … Wir hatten Furten durchwatet, in denen Hunderttausende solcher Steine, kieselgroße, faustgroße, manchmal kopfgroße beschriebene Steine im Lauf von Jahrhunderten versenkt worden waren, damit die Strömung über die Silben gleite und sie auf diese Weise weiter und weiter bete. Wir hatten aus den Wolken herabfließende Steilhänge durchstiegen, auf denen Abertausende zu dreieckigen Feldern angeordnete Gebetsfahnen flatterten. Und am Oberlauf des Yangtsekiang hatten wir Mönche gesehen, die mit Ton- und Holztafeln, in die diese Silben geschnitten worden waren, auf das glatte Wasser schlugen und so den längsten Strom Asiens mit Mantras
bedruckten
, damit der Strom die Worte ans Meer trage und jeder Wellenschlag, selbst die Brandung des Ozeans und der Wechsel von Ebbe und Flut zum Gebet werde.
Dieses Hochtal mit seinem Gletschersee, sagte Tharchin, sei durch die Beschriftung des Ufers zu einer einzigen riesigen Gebetsmühle geworden, die aus Gebirgszügen, Himmel und Wasser bestand und deren Silbenband ein Wanderer zum Kreisen bringen konnte, indem er es lesend, flüsternd abschritt:
Om Mani Padme Hum. Om Mani Padme Hum …
Und dann wurde die Stille plötzlich gebrochen, nein: vielleicht gerade durch die Klarheit eines dünnen, metallischen Klangs noch vertieft. Wir hatten unsere Zelte aufgeschlagen, Holz gesammelt und Feuer gemacht, als in der bläulichen Ferne am Südufer dünne Klöppel- oder Hammerschläge hörbar wurden, deren Rhythmik und wechselnde Tonhöhen an eine Spieluhr erinnerten.
Der Schreiber, sagte Tharchin.
Der Schreiber?, fragte ich.
Er schreibt mit Hammer und Meißel, sagte Tharchin. Er schlägt diese Zeichen seit Jahrhunderten ins Ufer.
Seit Jahrhunderten? Er schreibt seit Jahrhunderten?
Seit Jahrhunderten, sagte Tharchin.
Ich wußte, daß Mönche ihre Klöster verließen, um für
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