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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Meer. Selbst die höchsten, noch tief verschneiten Gipfel erschienen an diesem Ufer seltsam nahe und erreichbar. Gruppen von Himalayazedern mit langen Flechtenbärten, Tannen und Tränenkiefern gaben den Uferwiesen das Aussehen einer märchenhaften, wenn auch von Menschen und Weidevieh verlassenen Alm, deren Baumgrenze hoch über dem See lag.
    Unsere Kuppelzelte, die einzigen Behausungen am Ufer, standen so nahe am Wasser, daß wir im Glucksen der Wellen mit dem Gefühl einschlafen und wieder aufwachen konnten, den höchsten Bergen der Welt an Bord eines Floßes entgegenzudriften. Wir, eine aus drei Männern und drei Frauen bestehende, durch Freundschaft oder Liebe verbundene Gemeinschaft, hatten uns vorgenommen, das Land Kham – den von chinesischen Besatzern zum großen Teil der Provinz Sichuan zugeschlagenen Osten Tibets – zu durchqueren: von der an den Ausläufern des tibetischen Plateaus gelegenen Stadt Ya’an über den Oberlauf von Yangtsekiang und Mekong bis nach Zentraltibet und Lhasa, eintausendfünfhundert Kilometer zu Fuß, mit den Karawanen von Yak-Nomaden oder auf offenen Lastwagen, mit denen die neue Zeit mittlerweile auch hier bis in die entlegensten Täler fuhr.
    Der für Reisende damals noch kaum zugängliche Osten Tibets war in den Tagen unseres Aufbruchs allerdings wieder zu verbotenem und, vor allem für Bergwanderer aus dem Westen, unbetretbaren Land geworden. Denn in den großen zentraltibetischen Klöstern wie Drepung, Ganden und Sera hatten sich Mönche einmal mehr gegen die übermächtige
Volksbefreiungsarmee
Chinas erhoben, deren Generäle überzeugt waren, das tibetische Volk von der Last einer priesterlichen Feudalherrschaft und den schlimmsten Plagen der Rückständigkeit befreit zu haben oder dort, wo diese Befreiung auf Widerspruch und Widerstand stieß, noch befreien zu müssen. Und diese Generäle duldeten bei der Niederschlagung eines Aufstands von Vertretern der Vergangenheit keine Zeugen.
    Aber als die ersten Bilder von rauchverhüllten Gassen, Kolonnen von Truppentransportern und gefesselten Mönchen auf den Titelblättern westlicher Zeitungen erschienen, als bereits erteilte Einreisegenehmigungen für Tibet widerrufen, neue Anträge kategorisch abgelehnt und Schlagbäume geschlossen wurden, waren wir, begleitet von zwei Trägern aus dem Volk der Khampas und geführt von einem Mann, der einige von den vielen entlang unserer Route gesprochenen tibetischen Dialekten beherrschte, auch er ein Khampa, bereits seit zwei Wochen mit immer noch gültigen Papieren im Nomadenland unterwegs und dort für Behörden und Widerrufe vorerst nicht mehr erreichbar. Auch Nachrichten erreichten uns bloß noch als Gerüchte: Die Mönche hätten sich bewaffnet, sagte der Fahrer eines Lastwagens, der Motorsägen und Entrindungsmaschinen in die weiten, von der Befreiungsarmee zum Kahlschlag bestimmten Bergwälder Khams transportieren wollte und von einem Erdrutsch an der Weiterfahrt gehindert wurde, Mönche mit Gewehren! In Lhasa habe es Verhaftungen und Tote gegeben.
    In Maniganggo, einem staubigen Straßendorf aus kunstvoll bemalten Blockbauten, in dem sich Nachschub- und Transportwege, drei unbefestigte Sand- und Schotterpisten, kreuzten, hatte jeder, den wir danach fragten, von anderen Zwischenfällen und Feuergefechten gehört: Wo in einem Bericht bereits wieder Ruhe herrschte, brannten in einem anderen Klöster und Tempel. Wo ein Zeuge Schützenpanzer auffahren sah, ließ ein anderer Yak-Herden weiden. Tharchin, unser Führer in den Bergen, übersetzte jede Auskunft mit einem gleichmütigen Lächeln.
    Mit Kurzschwertern bewaffnete Nomaden, die bei leichtem Schneetreiben an einem speckigen Billardtisch am Straßenrand Pool spielten, lachten über alle Widersprüche. Ein Aufstand? Kham befand sich doch seit Jahrzehnten im Krieg mit den Chinesen; die konnten noch so viele Straßen, Bahnlinien und Brücken bauen, Kham war und blieb das Herz Tibets. Die Leibgarden des Dalai Lama seien immer Khampas gewesen.
    Einer der Billardspieler, er hatte glitzernde Bänder in sein gürtellanges Haar geflochten, zog ein Messer aus seinem Fellmantel und führte am eigenen Hals pantomimisch vor, wie man einem Angreifer die Kehle durchschnitt. Bevor er sich zum nächsten Stoß über den Tisch beugte, legte er sein Queue wie ein Gewehr an seine Wange und feuerte auf einen unsichtbaren Feind. Tharchin kannte den chinesischen Händler, der den Billardtisch unter freiem Himmel vermietete: Drei Yuan kostete das Spiel.

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