Atlas eines ängstlichen Mannes
ein Jahr oder auch für den Rest ihres Lebens als Eremiten in Höhlen oder rauchgeschwärzten Klausen zu leben, und daß, wenn einer von ihnen starb, sich immer ein Nachfolger fand, der das abgestreifte Leben aufnahm und weiterführte, Gebetsmühlen drehte, Windpferde an endlose Leinen knüpfte … Aber Tharchin hatte alles gesagt, was er sagen wollte oder sagen konnte: Der Schreiber, der am Südufer seine Zeichen in den Stein schlug, tat dies seit Jahrhunderten.
Natürlich versuchten wir in den nächsten Tagen immer wieder, den Steinmetz zu Gesicht zu bekommen, und folgten dem Klang seiner Arbeit, der aber jedesmal aussetzte, wenn wir ihm zu nahe kamen. Im Fernglas sah ich einmal zwischen Felsen und Hemlocktannen einen Schatten, seinen Schatten vermutlich, aber noch bevor ich erkennen konnte, ob er zu einem Menschen oder einem Tier gehörte, sah ich, wo eben noch etwas dahingehuscht war, nur ein sonnenbeschienenes Stück Waldboden.
Der Yilhun Lhatso erfüllte seinen die Wehmut des Abschieds aussprechenden Namen so sehr, daß wir schließlich sechs Tage an seinem Ufer blieben und den Aufbruch zweimal verschoben. Täglich hörten wir die Spieluhr des Schreibers, manchmal auch Gesang in der Ferne, einen hellen, seltsam kindlichen Strophengesang, und machten keine Versuche mehr, ihm zu begegnen oder ihn zu überraschen. Als ich aber am Vorabend unseres Aufbruchs von einem Gang hinauf zum Gletscher durch eine steile grasbewachsene Rinne ans Ufer zurückkehren wollte und mich ein unpassierbarer Überhang zu einem Umweg durch die Felstrümmer eines Bergsturzes zwang, stand ich plötzlich im Rücken jenes Mannes, der nach Tharchins Worten das Seeufer seit Jahrhunderten beschrieb:
Wie klein er war. Er trug eine zerschlissene rote Mönchskutte und um die schmalen Schultern eine Decke und war so beschäftigt, mit einem Nagel oder einem eisernen Dorn den Schwung eines Buchstabens als Vorzeichnung für den Meißel in den Stein zu gravieren, daß er meine Annäherung durch das Felsenlabyrinth, das ihn auch mir verborgen hatte, nicht bemerkte. Ich hielt überrascht, beinahe erschrocken inne, wollte dann unbemerkt in die Deckung der Felsen zurück, meinen Weg anderswo suchen und diesen uralten, geschrumpften Menschen seiner Schrift überlassen – als er sich umdrehte:
Es war ein Kind. Ein Junge, vielleicht zehn, vielleicht elf Jahre alt. Ihm lief die Nase. Er hob seinen Arm und wischte das glänzende Rinnsal in einen Ärmel seiner Kutte. Seine Wangen hatten jenes bläuliche, tiefe Rot, das der Frost in den Gesichtern vieler Menschen dieser Berge hinterließ. Als hätte er mich erwartet, sah er mich lange und wachsam an, ohne ein Wort, ohne zu lächeln, wandte sich dann wieder dem Stein zu und schrieb weiter.
Gesetzesbruch
Ich sah eine Schwimmerin in einem blauen, hell erleuchteten Pool inmitten eines nächtlichen Palmengartens. Der Garten lag am Fuß des Vulkans Gunung Agung auf der indonesischen Insel Bali. Eine haushohe, von Bougainvillea überwucherte Mauer schützte alles, was in diesem Garten geschah, vor den Blicken der Stadt Tulamben an der Nordostküste der Insel. Aber in dieser Nacht waren die Straßen und Plätze der Stadt menschenleer und so dunkel wie die Reisfelder, die Palmenhaine, die Tempel – dunkel und still. Die Schwimmerin zog im Pool, der groß genug für runde Bahnen war, ruhige Kreise.
Die Insel gehorchte in diesen Stunden den Gesetzen ihres höchsten Festtages, der hier neben den vielen Festtagen der gregorianischen, islamischen, buddhistischen und chinesischen Zeitrechnungen als
Nyepi
– Neujahr – nach dem hinduistischen Mondkalender errechnet und gefeiert wurde. Am Vortag waren in einer vom Lärm Tausender Schellen, Trommeln und Gongs begleiteten Prozession auch in Tulamben riesenhafte Dämonen und Teufel aus grell bemaltem Pappmaché, Styropor, Plastik und Bambus durch die Straßen getragen und Götter und Geister mit prachtvollen Opfern – Kronen, Pyramiden und Türmen aus Früchten, Fleisch, Süßigkeiten und Blüten – besänftigt oder beschworen worden, der Insel gegen Bedrohungen aus der dämonischen Schreckenswelt beizustehen. Aber der Tag nach allen klirrenden, lärmenden Umzügen und Feuerwerken mußte ein Tag des Schweigens und der Dunkelheit sein: Nyepi. An Nyepi sollte erschöpfte, nachdenkliche Stille herrschen, Einkehr, schließlich Dunkelheit.
An Nyepi mußten selbst der Flughafen in der Hauptstadt Denpasar geschlossen bleiben und die Bahnhöfe, Busstationen, Läden,
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