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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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mir immer wieder anzusehen, wie unter Zwang den Finger immer wieder auf den wundesten Punkt zu legen, den ich hatte.
    Ich streckte den Arm hoch, fegte das Ding vom Regal und fing es auf. Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, öffnete ich die braune Einkaufstüte.
    Der Pullover aus weichem pinkfarbenen Material war immer noch drin. Ich konnte beim besten Willen nicht feststellen, ob der schwache Parfümduft tatsächlich da war oder ob ich ihn mir nur einbildete, weil ich mich daran erinnerte, wie der Pullover am Anfang gerochen hatte. Ich starrte in die Tüte, ohne den Pullover anzufassen, obwohl ich es einerseits gern getan hätte, andererseits aber die Vorstellung hatte, dass dabei etwas Giftiges an meiner Haut haften bleiben würde. Manchmal überlegte ich, wie es wohl wäre, beim Öffnen des Wandschranks zu entdecken, dass das braune Päckchen verschwunden war, sodass ich es mir nie mehr anzusehen oder darüber nachzudenken brauchte. Mir war klar, dass ich es loswerden musste. Aber das war gar nicht so einfach.
    Irgendwie meinte ich, dass der Pullover sich in den anderthalb Jahren, die ich ihn schon hatte, stärker hätte verändern müssen. Der Parfümgeruch ließ zwar nach, aber das Material blieb sich gleich, statt schwarz zu werden oder sich in seine Bestandteile aufzulösen, wie ich es mir gewünscht hätte. Doch jedes Mal, wenn ich nachsah, war der Pullover so weich und knallig pink wie eh und je.
    Ich machte die Tüte zu und verstaute sie wieder auf dem Regal.

3
    Am Nachmittag setzte ich mich an den Computer, um nachzusehen, ob Val und Jake mir geschrieben hatten. Von Jake war eine Mail da – er war der Milliarde um zwölf Dollar näher gekommen –, aber nichts von Val.
    »Hast du in der letzten Zeit was von Val gehört?«, schrieb ich an Jake.
    Er antwortete sofort. Offenbar war er ständig online. Das Beste wäre wohl gewesen, er hätte sich den Computer in den Kopf implantieren lassen. »Die ist schwer mit diesem Schulorchester beschäftigt.«
    Ich konnte mich noch erinnern, wie Val damals über Musik gesprochen hatte, sah, wie sie vorgebeugt dasaß, mit den Händen gestikulierte und die Worte ihr nur so aus dem Mund sprudelten. Sie spielte Klavier, Flöte und Geige (natürlich nicht gleichzeitig). Im Aufenthaltsraum des Patterson Hospitals hatte sie sogar mal ein Konzert gegeben.
    Val hatte die Fähigkeit, überall Musik zu machen. In der Cafeteria der Klinik hatte sie Jake und mir beigebracht, wie man eine Jamsession abhält – mit Gabeln, Tassen, Tabletts, mit Händen und Füßen und Kämmen. Sogar Samenkapseln von den Johannisbrotbäumen im Krankenhausgarten hatte sie benutzt, weil die sich wie Rasseln anhörten, wenn man sie schüttelte. Manchen Leuten vom Küchenpersonal hatten unsere Sessions gefallen. Anderen eher weniger, weil es ihnen nicht ganz geheuer war, wenn wir uns so spontan verhielten. Trotzdem schaffte es Val, einige von ihnen mit einzubeziehen; sogar die mürrischste Küchenhilfe von allen überredete sie dazu, als Begleitung einen Topf mit ungekochtem Reis zu schütteln. Wenn sie sich richtig ins Zeug legte, konnte sie jeden rumkriegen.
    Nachdem ich eine Weile mit Jake herumgealbert hatte, schrieb ich eine kurze Mail an Val: »Hi, was gibt’s Neues?«
    Fast hätte ich sie wieder gelöscht, dann klickte ich aber doch auf Senden. Gerade als ich mich abmelden wollte, weil ich keine Lust hatte, den Rest des Tages vorm Computer zu sitzen und darauf zu warten, dass sie mir antwortete, kam eine Mail von jemandem namens nicki_t.
    Ich öffnete die Mail.
    »ich würde gern wissen wie es ist und warum du es getan hast weil mein dad es getan hat und ich gehofft habe du könntest mir sagen warum du es getan hast und ob du dich noch erinnerst wie es war. ich hoffe das hört sich nicht irgendwie schlimm an. ich möchte es einfach gern wissen und hab niemand den ich sonst fragen könnte.«
    Ihr Dad? Scheiße.
    Eine Minute lang saß ich wie gelähmt da und las Nickis Mail wieder und wieder durch. Ich rieb mir über die Arme und merkte, dass ich eine Gänsehaut hatte.
    »ich würde gern wissen wie es ist und warum du es getan hast …«
    Sie wollte, dass ich ihr vom schlimmsten Tag meines Lebens erzählte.
    Über diesen Tag hatte ich genau zwei Mal gesprochen: mit den Leuten in der Notaufnahme, kurz nachdem es geschehen war, und mit meiner Gruppe in der Klinik. In der Notaufnahme war es mir egal gewesen, was ich sagte oder wem ich es erzählte. Beim zweiten Mal lag die Sache anders, denn

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