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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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anders zu sein. Und wo stehe denn geschrieben, eine Frisur müsse symmetrisch sein?
    Sie schickte mir Bilder, auf denen ihr Kopf von vorn und von hinten zu sehen war. Vorn hatte sie alles bis zum Kinn abgeschnitten, während am Hinterkopf ein großes dreieckiges Stück herausrasiert worden war. Es sah aus, als hätte ihr ein Hai mit sehr spitzer Schnauze ein Stück Haar weggebissen. Ich speicherte die Bilder ab, um sie mir später noch einmal anzusehen.
    »Mein Dad sagt, es sehe aus, als sei mein Haar unter einen riesigen Ticketlocher geraten«, schrieb sie.
    »Das ist ja das Schöne daran.«
    Sie schickte mir ein Smiley.
    »Was gibt’s sonst noch Neues?«, erkundigte ich mich.
    »In welcher Hinsicht?«
    »In deiner Familie. In puncto Typen.« Als ich »Typen« schrieb, brach mir der kalte Schweiß aus. Immer, wenn ich mit einem Mädchen sprach, musste ich unwillkürlich an Amy Trillis denken. Nicht dass Val mich so mies abblitzen lassen würde wie Amy – zumindest nahm ich das an –, aber falls Val jemand anderen mochte, wäre es trotzdem ein schwerer Schlag für mich.
    »In der Familie alles wie gehabt«, antwortete Val. »Mom meckert ständig rum. Für Typen hab ich keine Zeit.«
    Ich atmete erleichtert auf.
    »Und wie steht’s bei dir?«, schrieb sie.
    »Hab auch keine Zeit für Typen.«
    »Ha ha. Und Mädchen? Na los, lass Details hören. Damit ich an deinen Abenteuern teilhaben kann!«
    Meine Abenteuer – das war ja zum Schreien komisch. »Da gibt’s nichts zu berichten.« Doch dann fiel mir Nicki ein – nicht im Sinne von »Mädchen«, wie Val es meinte, sondern weil mich ihre Mail immer noch beschäftigte.
    »Es gibt da ein Mädchen«, schrieb ich.
    »Jaaaa … bin ganz Ohr …«
    »Ich hab erfahren, dass ihr Vater sich umgebracht hat, und sie will mit mir darüber sprechen.«
    »Weiß sie über dich Bescheid?«
    »Die ganze Schule weiß über mich Bescheid.«
    Bevor Val antworten konnte, schob ich nach: »Sie hat gefragt, warum ich es getan habe.«
    Außer meiner Ärztin hatte mir noch nie jemand solche Fragen gestellt wie Nicki. Zumindest nie so direkt. Manchmal machten die Leute Andeutungen, als wollten sie mir zu verstehen geben, dass sie nichts dagegen hätten, ein paar gruselige Details zu hören, falls mir mal danach sein sollte, welche auszuspucken. Doch nach jenem Tag in der Garage hatte mich noch niemand gefragt.
    »Was will sie eigentlich von mir?«, fragte ich Val.
    »Vielleicht braucht sie einfach einen Freund«, antwortete Val.
    Über Menschen, die einen Freund brauchen, wusste Val Ishihara Bescheid. Sie war die Erste, mit der ich damals im Patterson Hospital gesprochen hatte, von den Psychologen einmal abgesehen. Zu dem Zeitpunkt war ich ungefähr schon eine Woche dort gewesen und sie redete jeden Tag mit mir. Sie machte immer eine kurze Pause, wenn sie etwas gesagt hatte, und wenn ich keine Antwort gab, fuhr sie einfach fort.
    »Was machst du hier?«, fragte ich sie, als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, mit ihr zu reden. Wir saßen im Aufenthaltsraum der Klinik, und Val versuchte, Ordnung in einen Stapel fettfleckiger Notenblätter zu bringen. »Du kommst mir viel zu normal vor für diesen Ort.« Val hatte viele kleine Macken: Ständig kaute sie an den Fingernägeln, fummelte an ihrem Haar herum oder wippte mit dem Fuß auf und ab. Wenn sie nervös wurde, senkte sie den Kopf und sprach in Richtung Fußboden. Doch sie gehörte nicht zu denen, die meinten, die Regierung habe ihnen ein Gerät ins Gehirn gepflanzt, um sie auszuspionieren. Und sie rollte sich auch nicht unterm Bett zusammen, wie ich es am ersten Tag in der Klinik getan hatte.
    Sie lachte. »Du hättest mich mal sehen sollen, als ich hier ankam. Da war ich ein wandelndes Angstbündel und hab es kaum geschafft, den Weg zur Toilette zurückzulegen.«
    Bei den Gruppensitzungen hatte sie von ihren Panikanfällen erzählt sowie von ihrem zwanghaften Verhalten bei ganz alltäglichen Verrichtungen. Wenn sie ein Zimmer durchqueren wollte, konnte sie sich oft nicht entscheiden, ob sie zuerst mit dem linken oder dem rechten Fuß auftreten sollte, was zur Folge hatte, dass sie dann stundenlang wie erstarrt dastand. Das hatte sie jedenfalls behauptet. Wenn ich sie mir so ansah, war ich mir jedoch nicht sicher, ob ich das glauben konnte.
    »Warum?«, fragte ich. »Ich meine, warum bist du überhaupt so geworden?«
    Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht werde ich das demnächst herausfinden. Wie eine mathematische Gleichung

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