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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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war mir jetzt klar. Kurz nachdem wir aus der Türkei zurückgekommen waren, hatten ihre Zweifel begonnen. Mehrmals hatte sie halb im Scherz eine Bemerkung gemacht. Meinst du, es bleibt? Muss ich es wirklich bekommen? Bestimmt ist es beschädigt, was dann? Manchmal hatte ich widersprochen, manchmal war ich darüber hinweggegangen oder hatte versucht ihr Mut zu machen. Beruhigen konnte ich sie nicht, und so unterzog sie das Kind allen verfügbaren Diagnoseverfahren der Pränataldiagnostik. So wollte sie die Kontrolle behalten und sicher sein, dass das Kind ihren Leistungserwartungen entsprechen würde. Der Angst vor ihrem eigenen Versagen bei der Geburt begegnete sie, indem sie sich ein umfangreiches geburtshilfliches Wissen aneignete, ja sogar einen geplanten Kaiserschnitt erwog. Alles sollte perfekt sein.
    Nun, da ich allein war, hatte ich begonnen, die Schwangerschaft, die Geburt und auch, wann und wie wir das Kind gemacht hatten, immer und immer wieder zu durchdenken, auf der Suche nach Anzeichen, die Paules Furcht bestätigten. Aber immer gelangte ich dahin, dass sie halt unbegabt sei zum Muttersein, dass es an ihr läge, nur an ihr.
    Kurze Zeit später kam der Sommer mit Wucht, und wenn der Himmel hoch über der Stadt stand, wenn in den Straßen das Sommertreiben stampfte, legte ich Lio in eine klapprige alte Karre, stieß sie von mir weg und vor mir her, sie rollte über den Gehweg, und ich lief mit flatterndem Hemd hinterher. Lebensgier waberte in Schlieren über dem weichen Asphalt. Im Botanischen Garten stellte ich Lio unter die Hemlocktanne in den Schatten, bedeckte den Wagen mit einem Gazetuch und legte mich ins Gras. Quietschende Trambahnen, das Brummen der geschäftigen Stadt, lupfige Musik weit entfernt. Immer war irgendwo ein Straßen- oder Stadtteilfest, wo ich einen grünen Luftballon kaufte und an den Wagen band. Ich setzte mich zu wildfremden Menschen an einen Biertisch, aß Mah-Mee mit vielen Nudeln und trank sauren Weißwein. Leichthin, mit langen Pausen und diesem beiläufigen, unaufgeregten Maß innerer Beteiligung, das der Situation angemessen war, gelang es mir, mit den Leuten zu reden, und auch, ihr Schrumpfen zu übersehen, wenn sie mich sprechen hörten. Ich simulierte Normalität und wanderte beschwingt und angeheitert durch die staubigen Straßen nach Hause, spätnachts, wenn keine Straßenbahn mehr fuhr. Zu Hause stellte ich Lio im Korbwagen neben mein Bett, lauschte in die Nacht und atmete sehr langsam ein. Und aus. Eine Autotür schlug zu, das Rinnsal eines Saxofonsolos tröpfelte aus dem Jazzclub nebenan, ein pfeifender Radfahrer, gefolgt von einem verfrühten Vogelschlag. Lios gurgelnder Schlaf. Erste Regentropfen fielen. Atmen, bis die Flut kommt.

BLUESIE
    Blust. Ein Frühsommertag und ein Blütenblätterstaubüberschwang mit Lust auf alles, was kommt. Das Postauto folgte den engen Kurven der Landstraße bergauf, rasch wechselten die Sonnen- und Schattenpassagen, beim Eintritt in kurze Waldstücke, beim Austritt in die sanfte Mattenlandschaft, in deren Mulden, auf deren Höckern einzelne Gehöfte saßen. Buchenlaubschatten, Sonnenflecken. Wir kamen durch ein lang gezogenes Stück lichten Waldes, mit uns im Bus fuhren noch ein einzelnes Schulkind und ein älteres Ehepaar, das sich laut unterhielt. Wir beide schwiegen. Und im gleichmäßigen Brummen des Motors, der Wärme um mich her, baute sich eine träge Spannung auf, die mich einhüllte und die Gedanken wie Honig durch die Gehirnwindungen tropfen ließ.
    Von Anfang an kam sie und ging. Kam und ging. Klingelte an einem ganz normalen Dienstag, sehr früh am Morgen, polterte die vier Stockwerke herauf und stand vor mir in Wanderstiefeln und mit einem erbsengrünen Edelweißtüchlein auf dem Kopf, unter dem die schwarzen Zöpfe herausfielen.
    »Komm mit in die Berge. Wandern«, sagte sie und setzte ihren Rucksack ab.
    »Keine Zeit, ich muss arbeiten«, sagte ich. Die Deadline für den Auftrag, an dem ich arbeitete, war bereits seit zehn Tagen verstrichen, doch der Kunde, eine Weberei im Tösstal, die Stoffe für Autositze herstellte, hatte mir eine Frist gewährt, die an dem Abend endete. Ein Augenblick der Unschlüssigkeit, schon hatte sich Paule an mir vorbeigedrängt, wir streiften uns und standen jetzt sehr nah beieinander. Bei Tageslicht. Und ich in Boxershorts mit ungeputzten Zähnen. Sie hatte auf dem Nasenrücken untereinander zwei dunkle Punkte, Leberfleckchen wie ein Maoritattoo. Sie roch nach Zigarettenrauch und kühlem

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