Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Staksen durch hüfthohes Unkraut und um die Ecke eines harzschwitzenden Schuppens, der allein auf einer Wiese stand. Paule, die vor mir ging, schrie plötzlich auf und blieb versteinert stehen. Vor ihr lag, im bläulichen Abendlicht, lang hingestreckt mit ockergelben Zähnen im zerfressenen Gesicht, ein halb verwester Dachs vor prächtiger Bergkulisse. In meinem Schädel klopfte das Blut.
»Komm«, ich wollte weiter, zog sie an der Hand, sie aber kauerte nieder und stocherte mit einem dünnen Stock im Bauch des Tiers herum. »Komm, lass uns weitergehen«, wieder nahm ich ihre Hand, zog sie fort, rannte über die Weiden bis zu den blassrosa Apfelbäumen, die sich im Tal bauschten, sie kam mir nach, holte auf und stellte mir ein Bein, wir fielen beide, rollten, kugelten den Hang hinab bis an den Rand einer verschüchterten Straße, die sich durch die atemverschlagende Landschaft wand. Stunden gingen wir, durch die Dämmerung zuerst, dann durch die Nacht.
An einer kleinen Bahnstation zwischen wenigen Häusern, in denen kein Licht mehr brannte, warteten wir auf den letzten Zug kurz vor Mitternacht. Paule band sich meinen Pullover um die Hüften, setzte sich neben mich auf die Holzbank und rieb sich Spucke auf die Kratzer an den Beinen. Dann lehnte sie den Kopf an meine Schulter. Der kühle Nachtwind schlüpfte unter mein zerrissenes Hemd und streichelte meine Haut.
Ein Geräusch, eine Berührung oder ein Traum. Etwas schreckte mich auf. Vielleicht nur die tiefer werdende Stille, das grelle Bahnhofslicht oder die Kühle an meiner Schulter da, wo Paule sich angelehnt hatte. Der Platz neben mir war leer. Paule war nirgendwo zu sehen. Einen Augenblick folgte ich benommen dem roten Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr, wie er geschmeidig seine Runde drehte, auf der Zwölf verharrte und weiterlief, nachdem der Minutenzeiger vorgeschnellt war. Gleich würde unser Zug kommen. Ich umkreiste das Bahnhofsgebäude, sah in den Fahrradunterstand, die Toiletten und hinter parkende Autos. Nichts. Zurück am Bahnsteig, schaute ich in die Dunkelheit der verlassenen Bahnstrecke. Rote Lichter, schimmernde Schienenstränge und da, unten auf den Geleisen, im Übergang vom beleuchteten Teil in den Schatten der Nacht, lag sie im Schotterbett mit geschlossenen Augen, als schliefe sie.
Ich rannte zu ihr, zwang mich ruhig zu bleiben.
»Was tust du da? Der Zug kommt gleich!«
Langsam öffnete sie die Augen.
»Sieh mal, der Mond.«
Ich hielt nach dem Zug Ausschau, sah auf die Uhr, dann nach den Signalen, die rot leuchteten, dann grün. Ich horchte angestrengt. Gleich würde er kommen, unser Zug, der letzte, der in diesem gottverlassenen Bahnhof, in diesem toten Nest irgendwo am Ende des Sihltals fuhr.
»Wie eine Schale, eine kleine sicheldünne Schale, liegt er da. Dabei wird er auf Bildern immer stehend gezeigt, ist dir das schon mal aufgefallen? Eigentlich liegen tut er nicht. Er hängt da, so schief und zufällig wie ein abgeschnittener Fingernagel.« Sie sah fragend zu mir hoch.
Außer mir sprang ich auf die Geleise, zog sie an den Händen in eine sitzende Position, schlang die Arme unter ihren Achseln durch und zerrte sie auf den Bahnsteig. Mir schien, sie mache sich schwer, und als ich sie endlich oben hatte, blieb sie mit baumelnden Beinen sitzen. Ich zerrte sie noch ein Stück zurück und ließ sie, als der Zug um die Kurve dröhnte und polternd einfuhr, eine Handbreit hinter der Sicherheitslinie liegen. Etwas in mir war gerissen, und als der Fahrtwind uns erfasste, schlug ich sie mit der flachen Hand ins Gesicht, dass ihr der Kopf nach hinten flog. Sie sah mich verwundert an, dann lachte sie. Der breite Mund, die vielen Zähne, die weit auseinanderstehenden Augen, die sich jetzt mit Tränen füllten. Ich ließ sie sitzen und ging.
Weiter und weiter die triste Zufahrtsstraße hinunter, Bahngebäude, Schuppen, Lagerhallen, ein dunkles Bürogebäude. Irgendwann fuhr der Zug an mir vorbei, ich sah nicht hin, ich wollte nicht sehen, ob sie eingestiegen war, ich wollte sie überhaupt nicht mehr sehen. Ich ging schnell und mit Kraft, die Wut trieb mich voran. Mit jedem Schritt lief ich sie aus mir heraus, bis ich langsamer wurde, weil etwas anderes sich hineinmischte und mich nach einigen Kilometern innehalten ließ. Verwirrung und etwas, das ich für Müdigkeit hielt. Ich kam an ein allein stehendes Haus, ein ehemaliges Lagergebäude, in dessen Fenstern rote Lichter leuchteten. Eine Leuchtschrift blinkte in wechselnden Farben. Pr tty Love.
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