Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
folgte mir im letzten Augenblick und sprang mit einem Satz aus dem Bus, der sofort weiterfuhr und hinter einer Biegung verschwand.
»Lass uns da hineingehen«, sagte sie in die Stille und dann:
»Keiner weiß, wo wir sind.«
Der Waldweg war von einer blässlichen Schicht Blütenstaub bedeckt, bei jedem Schritt stob er auf, stäubte und setzte sich auf uns ab. In die Falten der Wanderschuhe, auf die Socken und Kleider. Er rieselte auf Haare und Wimpern, kroch in die Ritzen der Haut. Schnurgerade zog sich der Pfad dahin, wir rannten ein Stück, drehten uns rasch um und sahen helle Staubwolken wirbeln. Gelbliche Schlieren auf Rock und Hose. Kein Laut, auch die Vögel waren jetzt verstummt.
»Keiner weiß, wo wir sind«, murmelte ich, »komm«, und zog sie an der Hand vom Weg ab und durch das Gestrüpp in den Wald hinein. Tief. Tiefer. Ich arbeitete mich schnell voran, hielt ihr die Zweige zur Seite, doch sie blieb immer weiter zurück, suchte einen eigenen Weg durch den mehligen Wald. Klar und ungetrübt lockte ein einzelner Vogelsang. Milchig hing der Staub in der Luft. Ich blieb stehen und sah mich um, Paule war verschwunden. Keiner weiß, wo ich bin, dachte ich und stellte mir vor, ich bliebe allein, Paule bliebe weg, und erinnerte mich, wie sie beim Umsteigen vom Zug ins Postauto auf einmal weggerannt war, ich allein im Bus saß, sie im letzten Augenblick außer Atem doch noch eingestiegen war und sich in einen entfernten Sitz hatte sinken lassen, als gehörten wir nicht zusammen. Wie ich mich neben sie gesetzt und wie es in ihrer Nähe gerochen hatte, nach Frühsommerschweiß und einem süßlich dumpfen Geruch, wie fauliges Wasser.
Der letzte Vogel war verstummt. Kein Zweig knisterte. Ich kam an den Rand einer Rodung und sah Paule, die mit hochgeschobenem Rock hinter einem Baum kauerte und Wasser ließ. Auf ihren Schienbeinen kreuz und quer dünne Kratzer, aus denen winzige Blutstropfen quollen. Ich setzte mich auf einen Baumstamm und beobachtete sie. Baumstümpfe ragten aus der wie eine Wunde brutal in den Wald gehauenen, von Gesträuch und Gestrüpp überwucherten Lichtung. Die Sonne brannte mir auf den Kopf. Paule stand auf mit dem Rockwulst auf den Hüften und ohne Slip. Sie kam zu mir herüber und setzte sich rittlings auf den bemoosten Baumstamm. Über die aufgesprungene Borke liefen Waldameisen in schneller Hast und verkrochen sich in dem langfädigen Polster. Paule drückte ihre Schnecken ins Moos. Die Klammerameisen suchten einen Weg über ihre nackten Beine. Fäden, Fetzchen, Sporen und Mooskapseln schoben sich in ihr Fleisch. Alles rutschte zwischen die Lippen und Falten, bewegte sich vorwärts, kroch in sie hinein, während aus den zerkratzten Beinen noch immer Blutströpfchen drangen. Die Sonne stach mir in Nacken und Rücken, mir schwindelte. Ich streckte die Beine und schob die Hände in die Hosentaschen. Meine Finger bewegten sich wie von selbst. Paule fasste mich an der Schulter, ich machte eine Vierteldrehung, sie packte mein Hemd und riss es mit einem Ruck auf. Knackend sprangen die Knöpfe ab, seufzend riss der Stoff. Ein graurosa Pulsieren darunter, als hätte sie auch mein blutgefülltes Herz geöffnet. Ich war so weit und nahm die Hände aus der ausgebeulten Hose. Ein ovales Karamellbonbon, das ich aus seinem knisternden Goldpapier wickelte und ihr mit dem Daumen tief zwischen die Lippen drückte. Ins feuchte Innere. Sie sog, lutschte, schmatzte und zog mich an sich. Ihre klebrigen Lippen auf meinem Mund. Das samtige Ding rutschte in meinen Gaumen, wo es zu schmelzen begann, bis ich es mit geschwollener Zunge wieder zurückdrückte, dann nach ihm zuckte, leckte und stieß. Paule bog sich weit nach hinten, mein irrer Blick verfing sich in ihrer Beingabel. Keiner weiß, wo wir sind.
Am Rand der Lichtung legten wir uns in eine weiche Kuhle, der kurz zuvor das Wurzelwerk eines Baums entrissen worden war. Mittagsglut. Der Blütenstaub stob in Schwaden. Wir schwitzten im Schlaf weiter, und der gelbe Staub schwamm in Schlieren auf unserer nassen Haut. Klammern fraßen unsere Zehen, Mücken arbeiteten sich in die Haare und unter die Haut. In Augenrändern und Mundwinkeln würden sich die ersten Maden tummeln, wir träumten, dass wir im modrigen Waldboden versanken.
Hämmernde Kopfschmerzen beim Anstieg durch den Wald, dann ein besoffenes Auf und Ab einen Höhenweg entlang. Seen und Gipfel links, Seen und Gipfel rechts. Am Ende der stundenlange Abstieg über Wiesen. Grünblaue Dämmerluft,
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