Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Wir fuhren schweigend in einem Bus an den Stadtrand, wo sie in einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus ein WG -Zimmer bewohnte. Sie nahm den Faden wieder auf, zog den dicken Pulli aus, stellte Musik an, kochte Tee, gleichzeitig das alles und mit einer Leichtigkeit, die mich schwindlig machte, denn ich war ausschließlich damit beschäftigt, die zwei Filme, die in meinem Kopf liefen, zu synchronisieren. Die Biwaksache: Mutmaßungen über Paules Wesen, ihren Körper, das lief ruckartig, sprunghaft und mit Tempowechseln; die Diskussionen: Paules abstruse Ansichten zum Comic als Erzähl- und Kunstgattung, wobei sie alles durcheinanderwarf, Superheldencomic, Underground, Graphic Novel. Spiegelman, klar, dabei hatte sie vom Underground-Comic keine Ahnung, hatte nie was von Tijuana Bibles gehört, jenen kleinen Achtseiterpornos, die in Bars, Spielhallen, Tankstellen unter der Theke verkauft wurden, ich gabs auf und freute mich, denn wir redeten jetzt über Sex, kamen der Sache näher. Wir blieben in fast allen Punkten uneins, und um uns nicht zu streiten, schliefen wir miteinander, wollten es sofort noch einmal, und als Paule endlich schlief, verließ ich sie im Morgengrauen, lief durch leere Straßen, in denen die Kehmaschinen wüteten, nach Hause und schlüsselte nach über zwei Stunden Fußmarsch mit zitternden Fingern an der Tür herum. Im dunklen Zimmer verkrochen schlief ich bis zum Nachmittag.
Ich saß in der Pyjamahose auf dem Balkon und genoss Kaffee trinkend die Oktobersonne, als es klingelte. Unten lehnte Paule, auf dem Fahrrad sitzend, an einem Baum und winkte mit der behandschuhten Rechten, ich solle herunterkommen. Wir verließen die Stadt und fuhren in den Wald, wo wir uns auf das Polster aus Tannennadeln legten. Paule war von der schnellen Fahrt verschwitzt und still, als hätte sie sich leer geredet. Als die Vögel zu lärmen begannen, küssten wir uns. Sie schob meinen Pullover nach oben, zog mir das Hemd aus der Hose und senkte den Kopf. Die Pinsel ihrer Zöpfe kitzelten meinen Bauch, ihre Zunge glitt über mich hin, und ihr Mund machte Saugbewegungen, als wollte sie mich aufschlürfen. Etwas löste sich auf in mir und über mir, vor einem dunklen Nachthimmel schwankten die Wipfel der Tannen im Wind.
5
Draußen dämmerte der Morgen, Lio schnarchte wie ein Clochard, während ich wach lag und auf Paule wartete, die nicht kam. Keine Croissants, keine Zeitung, keine Normalität. Eine Woche verging, in der ich mich durch das Zusammensein mit Lio improvisierte, die zweite Woche verging, Routinen stellten sich ein und eine Ahnung von Unfreiheit. In den folgenden Wochen verschwanden Paules Sachen bis auf ein paar nutzlose Gegenstände nach und nach aus der Wohnung. Irgendwann packte ich den Rest in eine Kiste und räumte alles in den Keller. Für später, für Lio. Ich lebte mit dem Kind in einem Provisorium, einem Übergang vom Ungewissen ins Unbekannte. Morgen, sagte ich mir jeden Tag, morgen fange ich an sie zu suchen. Doch stattdessen tat ich, was ich immer tat. Ich zeichnete. Ich scribbelte, malte, tuschte und kolorierte. Ich entwickelte Figuren, probierte mit Perspektive, Szenenwahl und Bildausschnitt herum, teilte die Seiten ein, legte die Panelgröße fest und fertigte ein grobes Layout an. Dann musste ich mich mit der Story befassen und zwang mich dazu, das Script in der Marvelmethode auszuarbeiten, um einen Überblick über den Handlungsverlauf zu bekommen. Ich schrieb nicht gern Worte auf, doch ohne den Entwurf fiel ich durch den von Lios Bedürfnissen so kurz getakteten Tagesverlauf immer wieder aus der Geschichte heraus und musste mich mühsam wieder reinkabeln. Viertelstunde für Viertelstunde kriegte ich vieles erledigt, und ein Haufen Papier sammelte sich an. Dazwischen maunzte Lio mich zurück in die Realität, ich gab ihr die Flasche, wickelte sie, trug und wiegte sie, bis sie wieder eingeschlafen war, und klemmte mich wieder ans Zeichenbrett. Tag und Nacht verflossen zu einem langsamen, ruhigen Zeitstrom, ich passte meinen Rhythmus an den von Lio an, arbeitete in der Nacht, schlief, wenn sie schlief, am Tag, und gewann ein wenig Freiheit. Morgens gegen fünf, wenn die Amseln zu singen begannen, ließ ich den Stift sinken, löschte das Licht und kroch ins Bett. Noch eine oder zwei Stunden würden mir bleiben, bevor der Hunger das Kind wieder weckte. Ich sah ins Dämmerlicht und schlief augenblicklich ein.
Paule hatte das Kind nicht gewollt. Sie hatte es von Anfang an loswerden wollen, das
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