Atomvulkan Golkonda
kapitalistischen Klassenfeindes, moralisch-bewusstseinsmäßig zurückgebliebener Sowjetbürger und sonstiger vorläufiger Unvollkommenheiten – durchgesetzt wird. Insbesondere die zur Stalinzeit verordnete »Phantastik der nahen Zielstellung« (deutsch auch kurz – wie weiter oben erwähnt – »Nahphantastik« genannt), die die wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Errungenschaften des Sowjetvolkes – möglichst im zeitlichen Rahmen des laufenden Fünfjahrplans – antizipieren und preisen sollte, ist davon geprägt worden, wobei die literarisch eigentlich ambitionierteren, »realistischeren« SF-Werke in der Regel zugleich die langweiligsten sind. {27} Wie wir aus Boris Strugatzkis Kommentaren schließen können, scheint vor allem Boris zunächst in Richtung solch eines SF-Produktionsromans gedrängt zu haben, und insbesondere der erste Teil des Atomvulkans lässt noch Spuren davon erkennen.
Auch der zweite Teil trägt das Siegel der älteren SF (nicht nur der sowjetischen), die noch umständlich schilderte, wie das Raumschiff gebaut (und ggf. der Saboteur entlarvt) wird und wie man den Zielplaneten anfliegt, ehe dort beginnt, was man heute als die eigentliche Handlung empfindet. Bemerkenswert daran ist allerdings, dass die Strugatzkis das quasi im Schnelldurchlauf absolvieren: Das Raumschiff ist schon fertig, wird aber immerhin noch erklärt; der Flug geht dank permanenter Beschleunigung sehr schnell, präsentiert aber trotzdem praktisch den ganzen Gefahrenkatalog der frühen Raumfahrt-SF (Meteoriten, Strahlung, Hitze, Sauerstoff- und Treibstoffmangel, Bruchlandungen – was die Helden nicht selbst erleben, erfahren sie von anderen Schiffen); auch die damals noch als sensationell empfundene Schwerelosigkeit wird nicht ausgespart. {28} Außerdem widmen die Autoren der Einführung ihrer Helden, deren Eigenheiten, Freundschaften und Konflikten viel Raum, sodass bis zur Landung auf der Venus dann doch wieder zwei Drittel des Romans vergehen.
Am Ende haben weder der Kriegs- noch der Produktionsroman den Atomvulkan Golkonda nachhaltig geprägt, Spuren hinterlassen haben aber beide Modelle. Dem Produktionsroman verwandt sind beispielsweise auch die Passagen, wo davon die Rede ist, wie sich Krajuchin gegen verständnislose und missgünstige Funktionäre durchsetzen muss, die jeden Misserfolg beim Flug der Chius nutzen werden, um das Projekt zu torpedieren; in der kommunistischen Zukunft freilich durfte derlei nicht mehr vorkommen, und die betreffenden Stellen wurden gestrichen bzw. eingekürzt und erst in der Fassung der Werkausgabe wiederhergestellt. Merkwürdig ist übrigens, dass anscheinend Arkadi den Großteil der Handlung geschrieben hat, die von den Vorbereitungen der Expedition handelt, also eher in Richtung des Boris vorschwebenden SF-Produktionsromans ging, während Boris dann den von Arkadi konzipierten heroischen Teil 3 verfasste. Diese »Arbeitsteilung über Kreuz« scheint sich spontan ergeben zu haben, hat dem Roman aber jedenfalls gutgetan und weist voraus auf die spätere Arbeitsweise der Strugatzkis, die eine Zuordnung einzelner Passagen zu einem der beiden kaum noch erlaubt.
Nicht nur zu viele Militärs, zu viele Tote und zu viele intrigante Funktionäre, auch andere Besonderheiten des Atomvulkans werden beim Vergleich der alten sowjetischen Fassung mit der hier vorliegenden rekonstruierten deutlich (wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, dass die zensierte russische Version bei der Übersetzung in der DDR nochmals gekürzt wurde). Gestrichen wurden merkwürdigerweise nicht nur kritische Bemerkungen über die Funktionäre, sondern sogar eine linientreue Erwähnung der KPdSU, nämlich in Bykows pathetischer Erklärung: »... ich führe jeden Ihrer Befehle aus, sofern er nicht den Interessen unseres Staates widerspricht ... und der Partei, versteht sich.« Was die Strugatzkis da geschrieben hatten, war damals durchaus üblich; vermutlich hatte da aber jemand sehr genau mitgedacht: Sind denn die »Interessen unseres Staates« und die der Partei zwei verschiedene Dinge? Also musste der Nachsatz weg, ob er sich nun von selbst verstand oder nicht.
Relativ frühzeitig gestrichen wurde das ursprünglich zweite Kapitel, ›Die Kantine der Raumfahrer‹; es erschien erst 2005 in einem Band mit Entwürfen, Vorarbeiten, Varianten und unveröffentlichten Texten, die bei der Sichtung der Strugatzki-Manuskripte entdeckt wurden. Es gehört zu einer frühen Fassung des Romans, die Personen heißen
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