Attack Unsichtbarer Feind: Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast (German Edition)
Aloysius,
ich schreibe Ihnen c/o Proctor in der Hoffnung, dass er den Brief an Sie weiterleitet. Ich weiß, dass Sie noch immer auf Reisen sind und wahrscheinlich nicht behelligt werden möchten, aber Sie sind nun schon fast ein Jahr fort, und da habe ich mir gedacht, dass Sie vielleicht bereit wären, nach Hause zu kommen. Sind Sie denn nicht inzwischen begierig, die Beurlaubung vom FBI zu beenden und wieder Mordfälle zu lösen? Wie auch immer: Ich muss Ihnen einfach von dem Projekt für meine Semesterarbeit erzählen. Ob Sie’s glauben oder nicht, ich reise in Kürze nach Roaring Fork, Colorado!
Ich habe eine wahnsinnig spannende Idee für eine Semesterarbeit. Ich will versuchen, mich kurz zu fassen, weil ich ja weiß, wie ungeduldig Sie sind, aber um das Ganze zu erklären, muss ich ein bisschen in der Historie zurückgehen. Im Jahr 1873 wurden in den Bergen der Rocky Mountains bei Leadville, Colorado, Silbervorkommen entdeckt. Schnell entstand in dem Tal ein Bergarbeiterlager, Roaring Fork mit Namen, benannt nach dem Fluss, der durch das Tal fließt, und überall in den umliegenden Bergen wurden Claims abgesteckt. Ein Jahr darauf, im Mai 1876, tötete ein einzelgängerischer Grizzly einen Bergarbeiter auf seinem entlegenen Claim im Gebirge – und für den restlichen Sommer versetzte der Bär die ganze Region in Angst und Schrecken. Die Stadtväter entsandten mehrere Jagdgruppen, die den Bären aufspüren und töten sollten, aber vergebens, denn die Bergregion ist äußerst unzugänglich und abgelegen. Als das Morden aufhörte, waren elf Bergarbeiter zerfleischt und auf fürchterliche Weise gefressen worden. Das war damals eine große Geschichte, über die in den Lokalzeitungen zahlreiche Artikel erschienen (aus ihnen habe ich auch die Details), außerdem habe ich Protokolle des Sheriffs und dergleichen eingesehen. Aber Roaring Fork lag abgeschieden, und so verschwand die Geschichte nach dem Ende der Mordserie ziemlich schnell wieder aus den Schlagzeilen.
Die Bergarbeiter wurden auf dem Friedhof von Roaring Fork bestattet, und ihr Schicksal geriet mehr oder weniger in Vergessenheit. Die Minen schlossen, die Einwohnerzahl von Roaring Fork sank, und schon bald hatte es sich in eine Geisterstadt verwandelt. Dann wurde im Jahr 1946 der Grund und Boden von Investoren gekauft und das Gelände in einen Skiort umgewandelt – und heute handelt es sich natürlich um einen der exklusivsten Wintersportorte der Welt –, der Durchschnittspreis für ein Haus beträgt über vier Millionen!
Das zur Vorgeschichte. Im vergangenen Herbst wurden die Gräber des ursprünglichen Friedhofs von Roaring Fork umgebettet, um Platz für die Erschließung von Baugrundstücken zu machen. Sämtliche sterblichen Überreste lagern heute in einem alten Geräteschuppen, hoch oben unweit des Skigebiets. Gleichzeitig herrscht unter den Menschen hier großer Streit, was mit den Särgen geschehen soll. Hundertdreißig Särge – von denen acht die sterblichen Überreste der Bergarbeiter enthalten, die der Grizzly getötet hat. (Die sterblichen Überreste der drei anderen Mordopfer sind entweder verlorengegangen oder nie gefunden worden.)
Was mich zum Thema meiner Semesterarbeit bringt:
Eine umfassende Analyse perimortaler Traumata anhand der Skelette von acht Bergarbeitern, die von einem Grizzlybären getötet wurden. Fundort: ein historischer Friedhof in Colorado.
Es gibt bis heute keine großangelegte Studie zu perimortalen Traumata an menschlichen Knochen, die ein großer Karnivore zugefügt hat. Keine einzige. Aber es passiert ja auch nicht oft, dass Menschen von Tieren gefressen werden. Meine Arbeit wird die erste sein!
Mein akademischer Betreuer, Prof. Greg Carbone, hat zwei meiner vorher eingereichten Themen abgelehnt, wofür ich dem Mistkerl dankbar bin – bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Er hätte auch dieses Thema zurückgewiesen, aus Gründen, mit denen ich Sie nicht langweilen will, aber ich habe mich entschlossen, eine Ihrer Empfehlungen zu beherzigen. Ich habe Carbones Akte in meine schwitzigen Finger bekommen. Ich wusste, der Mann war zu perfekt, um wahr zu sein. Vor ein paar Jahren hat er eine Studentin aus einem seiner Seminare gebumst – und war anschließend so blöd, sie im Examen durchrasseln zu lassen, als sie die Affäre abbrach. Also beschwerte sie sich bei der Universitätsleitung, und zwar nicht wegen des Sex, sondern wegen der schlechten Note. Keine Gesetze wurden gebrochen (die Studentin
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