Attack Unsichtbarer Feind: Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast (German Edition)
Corrie öffnete ihre Aktentasche (Rucksäcke waren am John Jay nicht gestattet), zog einen braunen Ordner hervor und legte ihn auf ihre Knie. »Sie haben sicherlich schon von der archäologischen Ausgrabung unten im City Hall Park gehört. Unweit der Stelle, wo das alte Gefängnis stand, im Volksmund als ›Tombs‹ bekannt.«
»Erzählen Sie mir davon.«
»Mitarbeiter der Parkverwaltung haben einen kleinen Friedhof mit hingerichteten Straftätern ergraben, um Platz für einen neuen U-Bahn-Eingang zu schaffen.«
»Ach ja, ich habe davon gelesen«, sagte Carbone.
»Der Friedhof war zwischen 1858 und 1865 in Betrieb. Nach 1865 wurden alle nach Hinrichtungen Bestatteten nach Hart Island verlegt, und es gibt bis heute keinen Zugang zu ihnen.«
Langsames Nicken seitens Carbone. Er wirkte interessiert; sie fühlte sich ermuntert, weiter auszuholen.
»Ich glaube, dass die Ausgrabung eine großartige Gelegenheit bietet, eine osteologische Untersuchung dieser Skelette vorzunehmen – um festzustellen, ob eine gravierende Mangelernährung während der Kindheit, die, wie Sie wissen, osteologische Marker hinterlässt, möglicherweise mit kriminellem Verhalten im späteren Leben korreliert.«
Noch ein Nicken von Carbone.
»Ich habe das alles hier skizziert.« Sie legte ihr Konzept auf den Tisch. »Hypothese, Methodologie, Kontrollgruppe, Beobachtungen und Analyse.«
Carbone legte eine Hand auf die Mappe, zog sie zu sich heran, klappte sie auf und blätterte darin herum.
»Es gibt mehrere Gründe, warum es sich hier um eine großartige Gelegenheit handelt«, fuhr sie fort. »Erstens besitzt die Stadt brauchbare Unterlagen über die meisten dieser hingerichteten Straftäter – Namen, Vorstrafenregister und Prozessakten. Über diejenigen, die im Arbeitshaus Five Points aufwuchsen – ungefähr ein halbes Dutzend –, gibt es zudem einige Unterlagen über ihre Kindheit. Alle diese Straftäter wurden auf dieselbe Weise hingerichtet – durch Erhängen –, so dass die Todesursache identisch ist. Und der Friedhof wurde nur sieben Jahre lang genutzt, deshalb stammen alle sterblichen Überreste ungefähr aus dem gleichen Zeitraum.«
Sie hielt inne. Carbone blätterte langsam um, eine Seite nach der anderen, und las anscheinend. Was er dachte, war nicht zu erkennen; seine Miene blieb völlig ausdruckslos.
»Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, und wie es scheint, hätte die Parkverwaltung nichts dagegen, die sterblichen Überreste von einer Studentin des John Jay untersuchen zu lassen.«
Das langsame Umblättern hörte auf. »Sie haben die bereits kontaktiert?«
»Ja. Ich habe nur mal vorgefühlt …«
»Vorgefühlt … Sie haben eine andere städtische Behörde kontaktiert, ohne vorher meine Genehmigung einzuholen?«
Oh-oh.
»Natürlich wollte ich Ihnen nicht ein Projekt vorstellen, das später womöglich von einer anderen Behörde abgesägt wird. Hm, war das falsch?«
Langes Schweigen, und dann: »Haben Sie denn nicht Ihr Handbuch für Studierende gelesen?«
Corrie wurde bang zumute. Natürlich hatte sie es gelesen – als sie zum Studium zugelassen wurde. Aber das lag jetzt ein Jahr zurück. »Nicht in letzter Zeit.«
»Darin steht völlig unmissverständlich: Studierende dürfen sich an andere städtische Behörden ausschließlich auf dem Dienstweg wenden. Und zwar, weil wir eine städtische Einrichtung sind, wie Sie wissen, eine Fachhochschule der städtischen Universität von New York.« Das sagte er in mildem, beinahe freundlichem Tonfall.
»Ich … Na ja, es tut mir leid, mir war entfallen, dass das im Handbuch steht.« Sie schluckte und spürte eine aufsteigende Angst – und Wut. Das hier war ein schier unglaublicher Bullshit. Aber sie zwang sich, ganz cool und ruhig zu bleiben. »Ich habe nur einige Telefonate geführt, nichts Offizielles.«
Ein Nicken. »Ich bin mir sicher, dass Sie nicht
absichtlich
gegen die Regularien der Universität verstoßen haben.« Er fing wieder an umzublättern, langsam, eine Seite nach der anderen, ohne sie dabei anzusehen. »Wie dem auch sei. Ich habe noch andere Probleme mit dem Konzept Ihrer Arbeit.«
»Ja?« Corrie wurde mulmig zumute.
»Diese Vorstellung, dass Mangelernährung zu einem kriminellen Leben führe … Das ist eine alte Idee – und eine wenig überzeugende.«
»Also, mir scheint sie es wert, überprüft zu werden.«
»Damals waren fast alle Leute unterernährt. Aber nicht jeder ist kriminell geworden. Außerdem schmeckt die Idee –
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