1307 - Die toten Frauen von Berlin
Sie kroch in ihr hoch, und sie wusste nicht, wen sie dafür verantwortlich machen sollte. Bestimmt nicht das Wetter und auch nicht die einsame Umgebung, denn so etwas kannte Eve, da sie öfter in Berlin unterwegs war. Hier fühlte sich die Frau sicherer als in ihrer Heimatstadt London. Seit zwei Jahren hatte sie den Job in der britischen Botschaft, die sich an exponierter Stelle befand, nur eine Steinwurfweite vom Brandenburger Tor entfernt. Für Eve war es ein toller Arbeitsplatz. Sie hoffte, noch so lange wie möglich in Berlin bleiben zu können, zudem sie auch recht gut die deutsche Sprache beherrschte.
In der Kneipe im Nicolaiviertel hatte sich Eve mit einigen Bekannten getroffen, die noch geblieben waren. Sie war plötzlich müde geworden, hatte sich regelrecht matt gefühlt und auch einige Male geniest. Es konnte sein, dass sie sich eine Erkältung eingefangen hatte.
Jetzt würden der Regen und der kalte Wind allerdings dafür sorgen, dass sie bestimmt krank wurde.
Aber das hatte nichts mit ihrer Beunruhigung oder der Angst zu tun. Dafür gab es andere Gründe. Es musste sie geben, obwohl sie nicht herausfand, was ihr Angst einjagte.
Der Regen? Die Einsamkeit? Sie hatte sich bereits ein Stück von der Kneipe und dem Nicolaiviertel entfernt und stand irgendwie im Niemandsland. Da war der kleine Park, an dessen Rand sie sich aufhielt. Die laublosen Bäume hinter ihr wirkten ebenfalls unheimlich. Der fallende Regen machte die Gegend zu einer unheimlichen Kulisse, als wäre dort aus den Wolken ein Vorhang gefallen. Die Lichter der Szene lagen weit zurück. Sie hörte auch nichts mehr.
Die Stimmen waren verstummt, und um sie herum gab es keine Lebewesen.
Oder doch?
Woher stammte die Kälte? Nicht nur vom Regen. Sie stieg auch in ihrem Innern hoch. Die Warnung war unüberhörbar, und Eve, die sich lange nicht bewegt hatte, wurde von dem Drang getrieben, endlich loszulaufen. Dahin, wo es heller war. Quer durch, bis sie die Straße Unter den Linden erreichte. Dort war es heller, und sie würde direkt auf das Brandenburger Tor zulaufen.
Eve lief los. Vielleicht konnte sie irgendwo in dieser Gegend ein Taxi finden.
Eve Sandhurst gehörte wirklich nicht zu den ängstlichen Menschen. In diesem Fall war vieles anders. Da klopfte ihr Herz immer schneller, und sie merkte auch beim Laufen den Schwindel, sodass sie den Eindruck hatte, von einer Seite zur anderen zu schwanken.
Noch immer glaubte sie, einen Verfolger im Nacken zu spüren, dessen heißer Atem sie berührte.
Irgendwo weiter vorn lag die erste Etappe ihres Ziels. Der neue Bau eines großen Medienkonzerns. Unter den Linden Nummer eins.
Die Zahl war für sie so etwas wie eine Hoffnung. Wenn sie den Ort erreicht hatte und damit auch die Straße, dann war die Sache gelaufen. Dann würde sie ein Taxi finden können.
Ich schaffe es! Ich muss es schaffen! Ich werde es auch schaffen!
Eve wollte wissen, ob sie noch allein war. Sie lief jetzt langsamer.
Stiche in der Brust zwangen sie dazu.
Es war keiner zu sehen.
Die Leere hätte sie beruhigen müssen. Es war leider nicht der Fall. Noch immer war das Gefühl der Angst in ihr vorhanden.
In der Brust spürte sie Stiche. Noch immer war ihr kein Mensch entgegengekommen. Auf der linken Seite ragte der Schatten der Baustelle in die Höhe.
Ein mächtiges Gerüst, umspielt vom Wind. Sie hörte das Klatschen, als der Regen dagegengeschleudert wurde, aber die Lichter der Autos waren schon näher gekommen.
Sie hustete und lachte zugleich. Es war geschafft oder fast – doch dann war alles vorbei.
Woher die Gestalt aufgetaucht war, wusste Eve nicht. Möglicherweise aus einer Lücke im Bauzaun. Sie hatte nichts gehört und nichts gesehen. Sie war einfach da.
Eve Sandhurst schrie noch auf, dann erhielt sie einen Stoß an der linken Schulter. Eve war zwar nicht schnell gelaufen, dennoch war sie nicht in der Lage, den Stoß auszugleichen. Sie kippte nach rechts weg, geriet dabei ins Taumeln und rutschte aus.
Das darf nicht wahr sein!, dachte sie, als sie plötzlich das Pflaster wie einen See auf sich zukommen sah. Aber es war kein Wasser, sondern ein harter Boden, gegen den sie schlug. Beim Fallen hatte sie noch die Hände vor das Gesicht gerissen und so den Kopf geschützt. So konnte sie den Aufprall etwas abmildern.
Auf dem Bauch blieb sie benommen liegen, und sie hörte auch nicht, dass sich die Schritte des unbekannten Angreifers entfernten.
Er musste sich noch in der Nähe aufhalten.
Sie konnte ihn nicht
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