Attila - Die Welt in Flammen
durch mitternächtliche Wälder, der Weg wird nur durch das Feuer in ihren glühenden Augen erhellt. Sie werden nicht langsamer und lassen auch nicht ab; die Nase dicht überm Boden, verfolgen sie den Ursprung des Gestanks deiner Sünden, die zum Himmel nach Vergeltung schreien.» Er hielt den Dolch vor das linke Auge des alten Mannes und bewegte ihn nicht von der Stelle. «Siehst du es jetzt ein? Siehst du jetzt ein,
weshalb ausgerechnet du?
»
Mit einer flinken Bewegung stach er Nemesianus das Auge aus und schnippte es mit der Spitze des Dolches aus der Höhle. Die wässrige Kugel flog von der Spitze des Dolches und fiel auf die Fliesen, wo sie leicht zitternd liegenblieb, wie eine urzeitliche Meereskreatur, die man unpassenderweise gerade aus dem Ozean gefischt hatte. Der alte Mann heulte auf, schlug hilflos um sich, und Tränen flossen aus der Höhlung, wo die Augenmuskeln und Nerven über das untere Lid herabhingen wie die blutigen Wurzeln einer außerirdischen Pflanze aus Fleisch und Blut. Tränen und Blut flossen ihm über die zerfurchten alten Wangen, und seine mit Leberflecken übersäten Hände umschlangen in schwacher Gegenwehr Attilas breite Unterarme.
«Siehst du es jetzt?», wiederholte Attila. «Nein. Ich fürchte, du siehst es nur halb.»
Ein weiterer Stich und Hieb mit dem Dolch, und da lagen zwei blinde Augäpfel im Staub. Die Augenhöhlen des alten Mannes füllten sich mit wässerigem Blut.
«Nun siehst du es», sagte Attila. Er entließ Nemesianus’ Kopf aus seiner Umklammerung und wischte seinen Dolch an dem Gewand des Alten ab. «Jetzt siehst du und begreifst.»
Nemesianus brach zusammen und lag stöhnend da.
«Ich fürchte, du wirst nicht mit ansehen, wie deine geliebte Stadt gleich in Flammen aufgeht.» Er steckte den Dolch innen in sein Lederwams. «Aber du wirst es riechen, kein Zweifel.»
Er blickte Orestes an. Der Grieche nickte. Daraufhin ritten sie zurück nach Aquileia.
Es war eine große Stadt mit einem großen Hafen, einem der größten Italiens. Und heute? Heute findet man Aquileia kaum mehr. Es ist nur noch ein Haufen Steine, über den seufzend der Wind fährt. Er seufzt und zieht weiter.
* * *
Nach Aquileia ritt Attila weiter nach Italien hinein, zerstörte Patavium, Vicentia, Verona, Placentia … In Mantua besang ein stadtbekannter Dichter den Eroberer mit blumigen Versen. Attila ließ ihn auf einem Scheiterhaufen aus seinen eigenen Büchern verbrennen.
Erst als er in Mediolanum ankam, erfuhr er vom Tod Galla Placidias ein Jahr zuvor. Er knirschte wütend mit den Zähnen und peitschte den Mann, der es ihm erzählte, zu Tode. In jener Nacht träumte er, wie er durch eine Galerie mit Statuen stolperte und sie zu Boden warf und mit den Füßen zertrat. Plötzlich trat Galla in einer grünen
stola
hervor und verschwand, bevor er ihr Gewalt antun konnte. Am Ende der Halle saß ein gehörnter König auf einem hölzernen Thron, der Klauen anstelle von Fingern hatte und anstatt königlicher Gewänder lediglich einen schmutzigen Lendenschurz trug. Seine Brust hing schlaff herab, sein Haar war ganz verfilzt und voller Federchen. Der König hob langsam den Kopf, seine Augen waren blutunterlaufen, verstört und voll Entsetzen, bis er schließlich das Gesicht zu einem grässlichen Lächeln verzog …
Schreiend erwachte Attila.
Orestes beruhigte ihn. «Bald sind wir in Rom.»
«Und Rom erwartet uns bereits», erwiderte Attila.
* * *
Ravenna war nichts als ein Hof voll schnatternder Affen in Togen. Sie redeten noch immer davon, sich von Attila loskaufen zu können.
Valentinian wollte wissen: «Und? Was sagt er? Was will er?»
«Forscht nicht zu sehr in den Tiefen dieses schwarzen Herzens», sagte Aëtius ruhig. «Ihr könntet Euch womöglich wie in einem Labyrinth verirren und niemals wieder herausfinden.»
«Du warst doch mit ihm befreundet, nicht?» Der Kaiser stand da, die Arme um sich selbst geschlungen starrte er Aëtius durchdringend an. «Ihr wart gute Freunde. Du kennst ihn gut.»
«Das ist lange her.»
Aëtius ging hinaus, um die letzte Truppe zusammenzustellen, die ihm geblieben war.
* * *
In Mediolanum richtete sich Attila im Kaiserlichen Palast ein, wo er unaufhörlich die endlosen Korridore durchmaß und dabei mit sich selbst sprach. Er schien keine Eile zu haben, nach Rom zu gelangen. Einige raunten sich zu, er sei von abergläubischen Vorahnungen erfüllt, und erinnerten an das Schicksal Alarichs, der triumphierend in Rom eingezogen und nur sechs
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