Attila - Die Welt in Flammen
Einen Augenblick darauf erschienen sie an der Tür. Lucius und Cadoc.
Aëtius berichtete ihnen, dass Attilas Rückkehr bevorstand. «Ihr solltet nun nach Hause segeln, und zwar endgültig. Vergesst Rom, so wie Rom euch vergessen hatte.»
Lucius schüttelte den Kopf. «Britannien läuft uns nicht davon. Ich kann es nicht wirklich erklären, aber wir, mein Sohn und ich, werden hier noch gebraucht. Hier bei dir. Wir bleiben bis zum Ende.»
* * *
Mittlerweile fand Attila kaum mehr Schlaf, er hatte Visionen. Er sah seine Reiter die Stufen zum römischen Kapitol hinaufsprengen und den Statuen des Kaisers mit dem Speer die Augen ausstechen. In seinen Träumen rief er immer wieder den Namen Roms – und den von Aëtius.
Aquileia leistete keinen Widerstand. Er trommelte die Honoratioren der Stadt zusammen und verlangte, dass ein gewisser Nemesianus vorgeführt werde. Der ehrwürdige Senator war alt und zu schwach, um herzukommen, sagte man ihm. Doch seine Villa sei nicht weit …
Er galoppierte davon, Orestes konnte kaum Schritt halten.
Er zerrte den weißhaarigen alten Senator aus dem Bett und hinaus auf die schöne Terrasse, von der man die herrliche Stadt Aquileia und die herbstliche Adria dahinter überblickte. Er wedelte mit dem Dolch über die Stadt.
«Das alles», sagte er mit rauer Stimme, «das alles wird als Erstes zerstört werden. Und zwar deinetwegen!»
Nemesianus hockte weinend am Boden. Orestes brachte sein Pferd zum Stehen und stieg gemeinsam mit einem halben Dutzend Kriegern ab. Der Senator starrte sie – ihre Tätowierungen, die kahl geschorenen Köpfe, die wulstigen Narben, Zahngirlanden und Wangenknochen – voll ungläubigem Abscheu an. Dann wandte er sich wieder zu Attila um, beinahe schluchzend. «Aber weshalb denn ich? Weshalb ausgerechnet ich?»
Attila hockte sich auf seine Fersen und seufzte. Er fuhr mit der Spitze seines Dolches über die feine Sandsteinfliese.
«N-n-nicht …», stammelte Nemesianus. «D-d-das ist f-f-feinster dalmatischer Sandstein …»
Attila sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und lachte. Er fuhr weiterhin mit der Schwertspitze über die Fliesen. «‹Warum ausgerechnet ich›», wiederholte er. «Das ist eine Frage, die den Göttern lästig ist.»
Der alte Mann hatte seine Unterlippe blutig gebissen. Die roten Stellen in seinem aschfahlen Gesicht wirkten wie Beeren in altem Schnee.
«Vor vierzig Jahren», sagte Attila, «waren einmal drei Kinder auf der Straße nach Aquileia. Sie waren klein, schwach und hatten Hunger. Niemand kümmerte sich um sie. Dann kamst du die Straße entlang.»
Nemesianus machte ein hoffnungsvolles Gesicht. «Vierzig Jahre, das ist eine lange Zeit. Vielleicht kannst du verstehen, dass …»
«Da war ein Knabe, ein ungehobelter Barbarenknabe, auf dessen Wangen die blauen Tätowierungen seines Volkes prangten. Er machte einem Angst.» Attila strich die Haare hinter die goldberingten Ohren zurück, und der Mann sah es und stöhnte. «Es war noch ein anderer Knabe dabei, ein blonder griechischer Sklavenjunge.» Er deutete mit dem Schwert auf Orestes. Nemesianus starrte zwischen den beiden hin und her. Blut tropfte auf sein besticktes Gewand.
«Und dann war da ein kleines Mädchen. Sie hieß Pelagia. Es war die Schwester des griechischen Sklavenjungen. Er liebte sie sehr. Sie war sechs Jahre alt.»
Nur Nemesianus’ Schluchzer waren zu hören. Dann flehte er «Bitte!», immer wieder.
Attila sah ihm in die Augen. «Pssst», machte er leise.
Nemesianus verstummte.
«Der tätowierte Barbarenjunge liebte sie auch, denn sie war unschuldig wie der junge Frühling. Vielleicht, weil sie alles das war, was er nicht war.»
Der alte Mann begann den Kopf zu schütteln, ganz langsam. «Nein, nein, nein», murmelte er leise, beinahe unhörbar.
«Du nahmst sie auf, du sorgtest für sie.» Attila schüttelte ebenfalls den Kopf, als würde er Mitleid empfinden. «Wie wundervoll du für sie sorgtest!»
Er stand auf und trat vor den alten Mann hin. «Das also ist die Antwort auf deine einfältige Frage: ‹Warum ich? Oh grausame Götter, warum ausgerechnet ich?›» Er klemmte das Kinn des Alten in seine Armbeuge. «Die Götter sind schlussendlich nicht grausam. Sie sind nur gerecht, und ihre Strafen sind die Hunde des Himmels, die unseren Sünden nachspüren. Nach langer Zeit, manchmal erst vierzig Jahre, nachdem die Sünde begangen, genossen und vergessen wurde, spüren dich diese Hunde des Himmels auf. Sie laufen die ganze Nacht über
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