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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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nuschelte vom Blatt ab, daher war nicht genau zu verstehen, ob er die DDR des Jahresbeginns 1990 als »das künftige Anschlussgebiet« bezeichnete oder als »Einschlussgebiet« oder »Abschussgebiet«, irgendwas in der Art jedenfalls, und er betonte dieses Wort gesondert, nahm Mittel- und Zeigefinger zuhilfe, um drumherum distanzierende Anführungsstriche in die Luft zu winken. Die Ungeheuerlichkeit solch eines derart leicht dahingesagten Begriffs löste keinerlei Widerstand im Publikum aus, es wurde genickt, und man war sich also hier unter schuldbewussten Westdeutschen einig, dass damals einiges schiefgelaufen ist; was genau, würde Grass ja dann gleich erklären. »Für interessante Gedanken ist eine Universität ein guter Ort«, hatte der Verlagsmitarbeiter noch auf die an die Lesung anschließende »Möglichkeit zur Diskussion« hingewiesen.
    Stimmt eigentlich, dachte ich mir da, holte »Hamit«, Walter Kempowskis Tagebuch des nun von Grass durchgaloppierten Jahres 1990 aus der Tasche, legte die beiden Bücher nebeneinander auf den Hörsaalklapptisch vor mir und blätterte parallel darin, das versprach interessante Gedanken. Der gebürtige Rostocker Kempowski, der acht Jahre in Bautzen eingesessen hatte, erlebte und beschrieb das Wiedervereinigungsjahr so ganz anders als Grass. Die Teilung Deutschlands hatte er über Jahrzehnte – verdrossen zwar, aber unermüdlich – als widernatürlich bezeichnet, dieEinheit herbeigesehnt; das ward nicht gern gesehen, das galt als nationalistisch und igitt. Anders als Grass war Kempowski Gewohnheits-Diarist, es musste nichts »Ungewöhnliches anstehen«, das ihn »in die Pflicht nahm«, und schon deshalb sind seine Tagebücher literarisch dem Grass’schen Gedröhne weit überlegen. Zeitlebens hat es Kempowski geschmerzt, dass er von tongebenden Zirkeln gemieden, ja diffamiert wurde, doch für sein Schreiben muss man diese Randstellung heute, im direkten Vergleich mit Grass, wohl als Glück bezeichnen. Im Januar 1990 plant Kempowski Ausflüge in seine alte, nun endlich wieder problemlos erreichbare Heimat, während Grass im selben Monat darlegt, wie er sich ins Rad der Geschichte zu werfen gedenkt, jederzeit überzeugt, ohne sein Gemahne werde alles ein schlimmes Ende nehmen, Großdeutschland und Weltuntergang inklusive. Bei Kempowski mischen sich Freude und Angst, selbst eine Fahrt nach Bautzen will er sich zumuten, und die Aufzeichnungen dieser Gedanken und Erlebnisse sind logischerweise viel bedeutender als das Grundsatzthesen-Gestammel von Grass, der immer gleich alles zu durchschauen glaubt, durch nichts zu überraschen oder zu überwältigen ist, nein, er – wenigstens er! – ist das unverzichtbare Korrektiv des Weltenlaufs.
    »Will versuchen, in der Frankfurter Rede das angebliche Recht auf deutsche Einheit im Sinne von wiedervereinigter Staatlichkeit an Auschwitz scheitern zu lassen«, liest Grass nun den Göttingern seine staatsmännischen Größenwahnvorstellungen vom 2. Januar 1990 vor. Niemand im Saal lacht darüber, nein, das ist ernst gemeint und wird ernst genommen. Gelacht wird bei Wörtern wie »Literaturquartett«, »Kotzen«, »Heidepark« oder »Schirrmacher«, man ist sehr selbstgewiss in diesem Saal, man ist im Bilde und weiß Bescheid.
    »Aber die Blechtrommel«, wird einem immer entgegengehalten, wenn man sich kritisch zu Werk oder Person Grassens äußert. Schön und gut, aber die letzten Grass-Bücher, sind die gut geschrieben? Sind die interessant? War seine Empörung über die Diskussionen, die das Bekenntnis zu seiner früheren Mitgliedschaft in der Waffen-SS auslöste, nicht einfach nur verlogen und widerlich?
    Nein, nein: ein kleiner Nebensatz in Roman und Interview, derart ausgeschlachtet! Kampagne! Natürlich.
    Davon abgesehen: Steht nimmermüdes Eingemische und Politgedröhne einem Schriftsteller wirklich gut? Ist die Beachtung gerechtfertigt, die jeder wie geistesschlicht auch immer formulierten Weltgeschehenskommentierung aus dem Hause Grass zuteilwird?
    »Schrieb gestern noch rasch und konzentriert zwei Seiten, um sie an Augstein zu schicken, der mir versprach, für den Abdruck zu sorgen.«
    Aber: Die Blechtrommel. Ja ja, schon gut.
    Grass steht da vorn als rotweinbesprenkelte Karikatur eines politischen Schriftstellers. Politisch ist, wenn möglichst konkret über Politik geredet wird, je mehr, desto besser. Im Auditorium lauter nickende Köpfe: Gut, dass wir unseren Großgünter haben, wir Deutschen sind ein gefährliches, von Ganoven

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