Auch Engel Moegens Heiss
nicht zu vergleichen mit der verdreckten Gestalt, die ihr noch vor wenigen Minuten entgegengestarrt hatte.
Die übrigen Mädchen lagen schon in tiefem Schlummer im Schlafzimmer, unter die Decken gekuschelt und in so kalter Luft, dass sich die Härchen an Carmelas Armen aufstellten. Sie machte noch einen Abstecher in den Wohnbereich, um Mitchell eine gute Nacht zu wünschen und ihm für alles zu danken. Im Fernseher lief ein amerikanisches Baseball-Spiel. Er sah auf, lächelte und deutete auf zwei mit Eis und einer dunklen Flüssigkeit gefüllte Gläser, die auf dem Tisch standen. »Ich habe dir was zu trinken gemacht«, sagte er, oder sagte er vermutlich, weil sein Spanisch wirklich kaum zu verstehen war. Er hob eines der Gläser hoch und nahm einen Schluck. »Coca-Cola.«
Ah, das verstand sie! Sie nahm das Glas, auf das er deutete, und trank die kalte, süße, beißende Cola. Das kitzelnde Gefühl hinten in der Kehle war einfach wunderbar. Mitchell klopfte einladend auf das Sofa, darum setzte sie sich, allerdings ans andere
Ende, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Auch wenn sie todmüde war, würde sie ihm ein paar Minuten Gesellschaft leisten, aus reiner Höflichkeit und weil sie ihm wirklich dankbar war. Ein netter Mann, dachte sie, mit süßen, leicht traurigen braunen Augen.
Er gab ihr ein paar Nüsse zum Knabbern, und plötzlich lechzte sie nach dem salzigen Geschmack, so als müsste ihr Körper das Salz ersetzen, das sie während des ersten Teils der Reise ausgeschwitzt hatte. Als sie danach noch mehr Coca-Cola brauchte, stand er auf und holte ihr noch eine. Eine seltsame Erfahrung, sich von einem Mann etwas bringen zu lassen, aber eventuell war das in Amerika so üblich. Vielleicht bedienten hier ja die Männer ihre Frauen. In diesem Fall bereute sie nur, dass sie nicht schon früher gekommen war!
Die Müdigkeit überwältigte sie. Sie musste gähnen und entschuldigte sich sofort dafür, aber er lachte nur und meinte, das sei in Ordnung so. Irgendwie überstieg es ihre Kräfte, die Augen offen und den Kopf gerade zu halten. Immer wieder kippte ihr Kopf nach vorn, immer wieder riss sie ihn hoch, bis ihr irgendwann die Halsmuskeln nicht mehr gehorchen wollten und sie spürte, wie sie, statt den Kopf zu heben, langsam zur Seite glitt. Mitchell war sofort zur Stelle, half ihr, sich auszustrecken, bettete ihren Kopf auf das Kissen und hob ihre Beine auf das Sofa. Er streichelte sie immer noch an den Beinen, erkannte sie verschwommen, und sie versuchte ihm zu erklären, dass er damit aufhören sollte, doch kein einziges Wort wollte mehr über ihre Zunge kommen. Und dann berührte er sie zwischen den Beinen, wo noch niemand sie berührt hatte.
Nein, dachte sie.
Und dann wurde alles schwarz, und sie dachte überhaupt nichts mehr.
1
»Daisy! Das Frühstück ist fertig!«
Die Stimme ihrer Mutter stieg jodelnd die Treppe herauf, in genau demselben Tonfall wie fast jeden Morgen, seit Daisy in die Schule gekommen war und Tag für Tag aus dem Bett gerissen werden musste.
Doch statt aus dem Bett zu springen, blieb Daisy Ann Minor liegen und lauschte dem Regen, der gleichmäßig auf das Dach trommelte und am Gesims herabtropfte. Es war der Morgen ihres vierunddreißigsten Geburtstages, und sie hatte nicht die geringste Lust aufzustehen. Trübsinn, trostlos wie der Regen draußen, drückte sie in die Kissen. Sie war vierunddrei ßig Jahre alt, und dieser besondere Tag versprach nichts, worauf sie sich freuen konnte.
Der Regen war nicht einmal ein ordentliches Gewitter voller Dramatik und akustischer Effekte, was ihr vielleicht noch gefallen hätte. O nein, es war einfach nur Regen, langweilig und trist. Der graue Tag spiegelte ihre Stimmung wider. Während sie so im Bett lag und die Tropfen am Schlafzimmerfenster herabrinnen sah, legte sich die Erkenntnis, dass ihr Geburtstag unabwendbar über sie hereingebrochen war, schwer und klamm wie eine nasse Wolldecke über sie. Ihr ganzes Leben lang war sie stets brav gewesen, und was hatte es ihr gebracht? Rein gar nichts.
Sie musste der Wahrheit ins Gesicht sehen, so unattraktiv die auch war.
Sie war vierunddreißig Jahre alt geworden, ohne je verheiratet oder auch nur verlobt gewesen zu sein. Sie hatte nicht
eine einzige heiße Affäre erlebt - nicht einmal eine lauwarme. Die kurze Liebelei im College, auf die sie sich hauptsächlich eingelassen hatte, weil das dort so üblich war und sie nicht abseits stehen wollte, konnte man guten Gewissens nicht als
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