Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)
Gott ihrer Seele gnädig sein.
Berlin-Neukölln, Hobrechtstraße – ein Kilometer Deutschland
Als ich in der Grundschule war, versuchte unsere Lehrerin einmal, uns zu vermitteln, wie lang ein Kilometer ist. Damit wir uns das besser vorstellen konnten, erklärte sie uns, dass die Hobrechtstraße, die in Berlin-Neukölln von der Sonnenallee bis zum Maybachufer führt, genau einen Kilometer lang ist. Damit konnten wir was anfangen. Die Hobrechtstraße kannte jeder und ich habe sogar dort gewohnt. Die Hobrechtstraße war meine Welt, in der ich mich bewegte, in der ich mich auskannte und in der ich meine Freunde hatte. Dort gab es alles und irgendwie ist diese Straße auch ein Sinnbild für mein ganzes Leben. Man kann mit ihr noch mehr erklären als nur, wie viel tausend Meter sind.
Am Tag vor meiner Hochzeit klingelt es bei mir an der Tür und ich gehe an die Sprechanlage. Da ist ein Kurier, der mir ein Geschenk von meinem Steuerberater bringen soll. Ich habe gerade meinen Hochzeitsanzug anprobiert, das Hemd hängt mir aus der Hose, trotzdem öffne ich und gehe dem Mann entgegen. Als er mich sieht, strahlt er übers ganze Gesicht und begrüßt mich überschwänglich. Ich bin etwas irritiert, er aber lässt sich nicht beirren und behandelt mich, als wäre ich sein ältester und bester Kumpel: »Hey, wie geht’s dir? Lange nicht gesehen. Was machst du so? Gut siehst du aus!« Ich frage ihn, wer er denn sei und ob wir uns kennen, da stellt sich heraus, dass es mein ehemaliger Nachbar aus der Hobrechtstraße ist. Unglaublich. Den habe ich bestimmt seit 24 Jahren nicht mehr gesehen und ich hätte ihn nie im Leben wiedererkannt, aber er ist bestimmt kein Schwätzer, denn er zählt mir sofort meine alte Clique auf. So muss ich mich nach und nach erinnern, ein bisschen widerwillig, weil ich bei solchen Begegnungen nie genau weiß, was die Leute von mir wollen, aber ich war wohl mit ihm auf der Grundschule, und wie es der Zufall eben so will, macht er bei mir jetzt den Kurierdienst. So stehen wir beide da, ich auf meinem Grundstück, im Anzug, kurz vor der Hochzeit und er mit seinen kaputten Turnschuhen, seinen alten Socken als Kurier. Zwei Männer. Ungefähr gleich alt. Aus derselben Gegend. Zwei Leben. Natürlich gefällt es mir so, wie es ist, ganz gut. Mir gefällt, dass ich hier stehe und nicht dort, aber für einen Augenblick habe ich diesen Gedanken, dass es ja auch andersherum sein könnte. Ich dort, er hier. Was wäre dann?
Als wir neun Jahre alt waren, gab es kaum Unterschiede zwischen uns. Wir waren zusammen, wir waren beste Kumpels, Freunde fürs Leben sozusagen, und beide hatten wir dieselben Voraussetzungen. Selbe Schule, ähnliche Elternhäuser, dieselben Interessen, die gleichen Turnschuhe, Kaugummis, Fußballsticker, Schulranzen. Dann bin ich weggezogen und unsere Wege haben sich getrennt. Jeder hat sein Leben gelebt und jeder hat ebendas gemacht, was er gemacht hat, und unser Leben heute ist das Ergebnis der letzten 24 Jahre. Ich bin mit meinem Leben, wie es bis hierher gelaufen ist, sehr zufrieden, aber ich habe mich gefragt, was ich empfinden würde, wenn ich heute in seiner Position wäre und mich treffen müsste. Einen alten Kumpel, mit dem ich aufgewachsen bin, der super berühmt und sehr, sehr reich geworden ist, einen Kumpel, mit dem ich zur Schule gegangen bin und der jetzt so tut, als würde er sich gar nicht mehr richtig an mich erinnern. Ich aber würde ihm mit allen Mitteln begreiflich machen wollen, dass wir uns doch kennen, mit Händen und Füßen würde ich ihm erklären: »Hey. Ich bin’s doch, Mann. Der Anis aus der Hobrechtstraße. Weißt du nicht mehr? Damals am Kanal?« Und ich würde in seine leeren Augen schauen und wissen, nein, er will sich nicht an mich erinnern. Er hat alles vergessen von damals.
Ich glaube, ich würde mich scheiße fühlen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist er ja voll zufrieden mit seinem Leben. Im Endeffekt muss ja auch jeder mit dem glücklich sein, was er hat und was er ist, denn wenn man immer nur auf das schaut, was man nicht hat, wird man depressiv. In meinen esoterischen Momenten finde ich, dass man durchaus dankbar sein sollte für das, was man hat, und auch mal Danke sagen sollte für all das Gute, was einem widerfährt, aber ich kenne es eben nicht anders. Mir passiert so viel Gutes, dass es fast unverschämt ist, und dann denke ich mir, dass alle mich beneiden müssen. Sich in andere hineinzuversetzen ist schwer und so muss er damit leben, wie
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