Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)
aufgemacht haben, wohnten damals nur »Kanaken«. Das war eine richtige Gastarbeiterwelt, mit Gastarbeiterläden, Gastarbeitercafés, Gastarbeiterkneipen und Gastarbeiterperspektiven. Deshalb ist das, was mein alter Kumpel da als Kurier macht, auch das Maximum, das man rausholen kann aus so einer Gastarbeiterwelt. Das ist die optimale Nutzung der Möglichkeiten, die ihm diese Gesellschaft unter normalen Bedingungen bietet. Wenn man nicht ganz krass auf volles Risiko geht und verdammt viel Glück hat, ist das alles, was man schaffen kann.
Das ist genauso wie im Aktiengeschäft. Wenn man auf Nummer sicher geht, verdient man eben nur zwölf Cent am Ende des Jahres. Wenn man aber alles auf eine Karte setzt, ist man irgendwann selbstmordgefährdet und erschießt sich, weil man alles verzockt hat, oder man wird eben ein Multibonze.
Erst kürzlich habe ich ein paar Grundschüler belauscht, die sich darüber unterhalten haben, was sie einmal werden wollen, und der eine fragte seinen Kumpel, ob er Postbote werden wolle. Der Kumpel antwortete: »Ja, Postbote ist cool.« Worauf der Erste sagte: »Ja, aber da kann man nicht reich werden. Also, ich will entweder Fußballer oder Sänger werden, weil da kann man reich werden.« Ich fand das gut. Die haben wenigstens einen Traum und können sich dann entscheiden, ob sie Postbote werden oder alles riskieren wollen, um später vielleicht tatsächlich Fußballer oder Sänger zu werden. Die Leute in der Hobrechtstraße hatten keine Träume, die waren gefangen in ihrer Welt, in ihrem Alltag, in ihrem Viertel. Aber wenn man von der Hobrechtstraße in die Pflügerstraße einbiegt, kommt man an den Kottbusser Damm, eine Hauptverkehrsstraße von Berlin, und gegenüber, auf der anderen Seite, da war das Moviemento-Kino. Irgendwann durfte ich da allein hingehen und ich bin wirklich gerne ins Kino gegangen. Das war eine vollkommen neue und faszinierende Welt und vor allem war es auf der anderen Seite von unserem Viertel. Das war schon Kreuzberg und die Leute waren da ein bisschen anders drauf, obwohl es nur zwei Straßen weiter war. Manchmal denke ich, dass man seine Welt einfach mal verlassen und ein Risiko eingehen muss, um etwas Neues zu entdecken.
Bei mir, das muss ich allerdings zugeben, gab es diesen einen Punkt gar nicht, an dem ich mich zwischen zwei Leben hätte entscheiden müssen. Es gab nicht diesen Moment, in dem ich alles auf eine Karte setzen musste, weil es sonst nicht gelaufen wäre. Das hat sich alles nach und nach entwickelt. Ich bin von einer Scheiße in die nächste gestolpert. Ich war in der Schule und wusste nicht, was ich werden sollte. Ich wusste irgendwann nur, dass ich nicht mehr in die Schule gehen, sondern lieber chillen und Drogen nehmen wollte. Dann habe ich Drogen genommen und gechillt und irgendwann musste ich auf Anweisung eines Gerichts Maler und Lackierer werden. Dann bin ich durch Zufall auf die Musik gestoßen und habe beschlossen, da ein bisschen Zeit und Energie zu investieren. Das hat fast sofort funktioniert. Gleich nach meinem ersten Tape war das Label Aggro Berlin am Start, im Jahr darauf kam Universal. Ich musste nie wirklich was riskieren. Das ist alles wie von allein passiert. Es war sozusagen eine passive Fähigkeit, die ich hatte. Nur eines wusste ich immer. Ich wollte nicht unten bleiben. Ich wollte nicht mehr um sieben Uhr auf der Baustelle stehen. Während meiner Ausbildung habe ich das ja auch nicht gemacht, weil ich es cool fand. Ich habe es gemacht, weil ich musste. Das war keine freie Entscheidung, aber im Nachhinein erscheint es mir als ein großes Glück, dass ich dazu gezwungen wurde, weil es mich aus dieser Abwärtsspirale herausgeholt hat, in die ich hineingeraten war.
Es war ja nicht so, dass wir in meiner Kindheit und Jugend richtig arm waren. Meine Mutter hat immer gearbeitet und es war genug von allem Notwendigen da, allerdings waren das auch andere Zeiten. Da gab es kein iPhone, kein iPad, keine Smartphones, Computer und was man heute sonst noch alles haben muss, um mitmachen zu dürfen. Trotzdem musste ich immer krass sparen und ich bin schon als Kind für fünfzig Pfennig arbeiten gegangen. In der Yorckstraße habe ich in einem türkischen Supermarkt Kisten gestapelt und Regale eingeräumt. Das Geld habe ich gespart, um meiner Mutter für vier Mark einen Schokoeisbecher zu kaufen. Das war das Schönste, wenn wir zusammen Eis gegessen haben, auf der Couch saßen und Fernsehen geguckt haben. Trotzdem. Das wollte ich so nicht
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