Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)
sowieso keinen Job mehr bekommen. Weil die Handwerksbetriebe schließen und die Fabriken dichtgemacht haben. Vor zwanzig Jahren hätten sie als ungelernte Arbeiter noch jede Menge Kohle nach Hause bringen können, aber die sehen ja auch, dass ihre Eltern in den vorzeitigen Ruhestand entlassen werden und nach einem Jahr Arbeitslosengeld eins bei Hartz IV landen. Was sollen die denken? Wie viel Sinn sollen die noch in ihrer Existenz sehen? Natürlich ist jeder für sich selbst verantwortlich, aber genauso wie ich nicht auf eine bessere Berufsschule wollte, genauso wie die Reichen aus ihrem Gründerzeitviertel nicht herauskommen, genauso wenig schaffen es die Leute aus meinem alten Viertel, sich zu bewegen, oder meine arabischen Freunde, aus »sozialen Brennpunkten« herauszukommen.
Das wird dann in den Medien groß ausgeschlachtet, weil es um organisierte Bandenkriminalität und arabische Großfamilien geht. Um Drogenverkauf, Autohandel und Waffenschiebereien. Das sind die Orte, an denen sich Typen Überfälle auf Pokerturniere ausdenken, wohingegen sie über Investmentgeschäfte nachdenken würden, wenn sie in einem anderen Viertel aufgewachsen wären. Da ist man dann tatsächlich drin in dieser Parallelgesellschaft, die mit dem Rest von Deutschland genauso viel oder wenig zu tun hat wie Lichterfelde-West. Da herrschen eigene Gesetze. Da geht es darum, dass du der Härteste bist und dich nicht unterkriegen lässt.
Das ist in den meisten Großstädten nichts Besonderes mehr. Solche Viertel gibt es überall. Im Osten heißen sie Hohenschönhausen und Marzahn, im Westen Rollbergviertel und Soldiner Kiez. In Köln heißen sie Papageiensiedlung, Porz, Mühlheim und Gremberg und in Stuttgart »Assi-Fassi« und Hallschlag. Und genauso wie Lichterfelde-West auf absehbare Zeit fest in der Hand der deutschen Oberschicht bleiben wird, werden diese Viertel von Familien beherrscht, die in der dritten Generation von Stütze leben. Mit unehelichen Kindern, kleineren Geschäften und immer ist der Fernseher zu laut und die Leute rauchen zu viele Zigaretten und trinken zu viel Alkohol.
Warum sollte ich dort bleiben? Warum sollte ich nicht nach Lichterfelde-West ziehen, in diesen scheinbar liberalen und toleranten Stadtteil? Bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2009 haben in Lichterfelde-West zwar 31,1 Prozent der Leute die CDU gewählt, aber immerhin 20,2 Prozent die SPD und 19,3 Prozent die Grünen. Das ist doch eine satte linksalternative Mehrheit – eigentlich – und wahrscheinlich sind die alle auch ganz aktiv in irgendwelchen Schulprojekten beteiligt und setzen sich dafür ein, dass die Dächer begrünt oder mit Solarzellen ausgerüstet werden. Dass aber jemand, der aus Neukölln oder Tempelhof kommt, ebenfalls hier wohnt, das finden die ein bisschen eklig. Das ist weit weg für die, und wenn ich hier auftauche, wenn sie mich jeden Tag sehen müssen, dann stört sie das.
Ich bin der lebende Beweis, dass es diese andere Welt gibt, genauso wie die Flüchtlinge aus der Dritten Welt, die bei uns aufschlagen, der Beweis dafür sind, dass es immer noch Hunger und Elend auf der Welt gibt. Ich bin hierhergezogen, weil ich aus unserem alten Viertel wegwollte und nach was Ruhigerem gesucht habe. Nach guter Luft, weniger Verkehr und weniger Stress. Ich habe mir hier ein Haus gekauft, weil ich es mir leisten kann. Die anderen haben hier ein Haus, weil sie es von ihren Eltern vererbt bekommen haben. Die anderen stammen von hier, ich nicht. Die anderen im Viertel haben Eltern, die Eltern hatten, die wiederum Eltern hatten, die hier ihre grotesken Villen hochgezogen haben und schon seit 1870 hier wohnen. Ich habe eine Mutter, die in einem Backshop in Tempelhof gearbeitet hat, bevor ich sie hierhergeholt habe. Die Eltern der anderen hier hatten Eltern, die wahrscheinlich seit drei Generationen Rechtsanwälte, Ärzte oder Professoren waren, und so werden auch die Kinder Architekten, Notare und Kieferorthopäden.
Meine Mutter hat Erzieherin gelernt und ich Maler und Lackierer. Ein gelernter Maler und Lackierer hat in dieser Welt nichts zu suchen. Ein gelernter Maler und Lackierer, so wie ich, wohnt nicht in einem riesigen Haus mit Sichtschutz und mehreren Luxuskarossen vor der Haustür wie all die anderen auch. Ein gelernter Maler und Lackierer tut so etwas nicht. Aber ich scheiße da drauf. Vielleicht gehöre ich nicht dazu, aber ich bleibe hier. Genauso wie ich immer wieder auf irgendwelche Bälle und Empfänge gehen werde, nur um die
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