Auf Amerika
auf dem Schoß der Lammermutter, der Bäuerin, bei der wir in zwei Zimmern unterm Dach bis zu meinem achten Lebensjahr wohnten. Im Juni 1946 begann meine glückliche Kindheit. Meine Wiege stand unter dem mächtigen Zwiebelapfelbaum, in dessen Blätterwerk ich viele Bildergeschichten lesen konnte, die Hühner schissen auf mich, und ich war ein glückliches Kind.
8
Der Veit, der ein so friedlicher Mensch ist, dass er sich sogar von der Wirtin alles gefallen lässt, mag Leute wie meinen Vater nicht. Der ist für ihn einer, der nur mit dem Maul, aber nicht mit den Händen anschafft, ein Siebengescheiter, wie man so einen hier nennt, aber eigentlich nicht braucht, einer, der, wie der Veit sagt, die Hände nicht aus der Hosentasche bringt, dem man die Hosentaschen zunähen müsste, damit er mit seinen Händen was anpacken könnte und nicht nur mit dem Maul.
Der Veit, sosehr er für mich und alle anderen zum Dorf gehört, viel mehr als meine Eltern und ich, ist auch nicht von hier. Die Lammermutter sagt, der Veit ist halt irgendwann einmal auf der Brennsuppe dahergeschwommen, aber nichts Gewisses weiß man nicht. Und wenn ich den Veit frage, Veit, von wo kommst du her, dann lacht er und sagt: Jamei, Bub, das ist so lang her, das hab ich schon vergessen. Er mag halt nicht darüber reden, denke ich mir. Dass man vergisst, wo man herkommt, das kann ich nicht glauben.
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Wenn man bei uns über etwas nichts Genaues wusste, etwas ein Geheimnis zu sein schien, sprach man darüber besonders viel. Der eine sagte so, der andere so, einer wusste dies, der andere das, und am Ende gab es auf der Welt zwischen dem Beichtstuhl und den Schlafkammern der Bauern so viele angebliche Wahrheiten, dass keiner mehr wusste, was die wirkliche Wahrheit war. Bei der Postlerin, wo das einzige Telefon war, wohin man zum Telefonieren ging, weil man den Viehdoktor brauchte oder den Menschendoktor, war die Informationszentrale von Hausen. Die Postlerin war Herrin über jegliche Post und Mithörerin aller Telefongespräche. Sie wusste, was wichtig war, was geredet wurde, was verheimlicht werden sollte, was man wissen musste. Sie las meiner Mutter, wenn sie eine Postkarte von deren Schwester Barbara überbrachte, schon im Kommen laut vor. Der Schwester geht es gut, in Rimini sind sie jetzt, schönes Wetter haben sie, und der Wein ist gut. Im Kramerladen, an der Milchbank und in der Metzgerei, wo alles wiedergekäut wurde, was von gegenüber von der Postlerin an Neuestem herüberkam, stellten die Frauen ihre eigenen Vermutungen über den Veit und seine Herkunft an.
Die Kramerin wollte gehört haben, dass der Veit das uneheliche Kind eines badischen Großbauern und einer Magd war, ein Bankert sozusagen, und als solcher verstoßen worden ist. Diese Wahrheit, eine von mehreren, war dazu angetan, in den Herzen der Bauersfrauen eine ganz besondere Tür zu öffnen. Von ihren Männern und deren fleischlicher Gier wissend, oft genug betrogen und gedemütigt, fühlten sie nicht nur mit der Mutter, die das Kind weggeben musste, sondern sie priesen auch den Umstand, nicht die Magd bei einem herrischen Bauern, sondern die Bäuerin selber zu sein. Der Veit war den Hausener Frauen ans Herz gewachsen. Vor ihm, der im Krieg so vortrefflich den an der Front befindlichen Wirt ersetzte, hatten die Frauen auch aus einem besonderen Grund Respekt. Weil man ja die Wirtin nicht verrecken lassen konnte, waren sie gegen ihre Gewohnheit während des Krieges regelmäßig in die Wirtschaft gegangen, um die Biere zu trinken, von denen die Männer in den Schützengräben nur träumen konnten. Der Veit war der Wirtin so vorbildlich zur Hand gegangen, dass mancher glauben mochte, er sei der Wirt gewesen. Es soll damals in der Wirtschaft, wo der Veit sozusagen der Hahn im Hühnerstall war, viel lustiger zugegangen sein als später, in Friedenszeiten, wo sich nur die Männer dort ihre Räusche besorgten und ihre Kriegserlebnisse schönredeten und zu Heldentaten auftürmten. Es müsste, sagte die Lammermutter einmal, extra eine Wirtschaft für die Weiber geben. Sie ging, wie fast alle Frauen, außer nach Beerdigungen nie wieder in die Wirtschaft. Über den Veit ging den Frauen jedenfalls kein schlechtes Wort über die Lippen. Sie grüßten ihn freundlich, erkundigten sich nach seinem Befinden und fragten sich natürlich auch gelegentlich, wie so ein Mannsbild wie der Veit so ganz ohne das weibliche Geschlecht auskommen konnte. Der ist halt ein Ochs, sagte die Postlerin, die gerne kurz und
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