Auf Amerika
der Volksschule ist die Rosa auf dem elterlichen Hof geblieben, hat nichts gelernt, hat mit den Eltern und dem zehn Jahre älteren Bruder den Hof bewirtschaftet. Schon als Jugendliche hatte sie zahlreiche Liebschaften. Aber hängengeblieben, wie der Benno sagt, ist keiner. Irgendwann war die Rosa in der Situation der Frieda, die Männer kamen, standen Schlange, benutzten sie und gingen wieder. In einen war die Rosa über all die Jahre verliebt, in den Rudolf vom Schwingshandel, einen Flüchtlingssohn aus dem Unterdorf, der ein paar Jahre älter war als sie. Doch der blieb auch nicht bei der Rosa. Er heiratete Rita, die Tochter eines reichen Hopfenbauern aus der Hallertau. Diese Ehe war, darüber sprach man offen, von Anfang an ein Desaster. Rita setzte Rudolf Hörner auf, betrog ihn, wo sie nur konnte. Es gab immer häufiger Auseinandersetzungen. Zwei Kinder wurden geboren, die Rita und ihre Familie systematisch vom Vater fernhielten. Es war nicht einmal sicher, dass es seine Kinder waren. Rudolf zog aus, litt wie ein Hund, wurde depressiv, kam in psychiatrische Behandlung, verbrachte ein Jahr in einer Klinik, die Rita und ihre Eltern als Irrenhaus bezeichneten. Dann wurde die Ehe nach etwa fünfzehn Jahren geschieden. Rudolf, jetzt über vierzig, zog weg, an die S-Bahn, arbeitete als Hausmeister in einem Altenheim.
Rosa lebte mit dem Bruder, nachdem die Eltern gestorben waren, alleine auf dem Hof. Die Landwirtschaft gaben sie auf. Der Bruder arbeitete als Bauhilfsarbeiter, Rosa fand eine Putzstelle in ebendiesem Altenheim, wo sie nach Jahren den Rudolf wiedertraf. Langsam, es dauerte ein paar Jahre, wurden die beiden ein Paar. Jetzt hatte die Rosa ihren Märchenprinzen, den einzigen, den sie wirklich geliebt hat. Sie heirateten, und Rosa zog ins Reihenhaus zu Rudolf.
Selbst der Benno, der mit solchen Einordnungen eigentlich nichts zu tun hat, sagt: Sie waren ein glückliches Paar.
Was heißt waren?
Sie waren ein Jahr zusammen, dann hatte Rudolf einen Schlaganfall und starb. Jetzt lebt die Rosa mit dem Bruder, der auch schon einen Schlaganfall hinter sich hat, wieder auf dem Hof.
Die Rosa! Ich muss an ihre feinen gekräuselten Härchen zwischen ihren Zöpfen denken und an die wunderbaren Hakelstecken, die sie gemalt hat.
Dann sehe ich sie.
Sie kniet in einem Beet ihres prächtigen Bauerngartens und zupft Unkraut. Dieser Garten war schon eine Pracht, als wir noch Kinder waren. Ich hatte dafür damals keinen Blick, meine Mutter aber bewunderte ihn, und sie hat ihn auch fotografiert – leider in Schwarzweiß. Ich bleibe stehen und schaue der Rosa zu. Dann sieht sie mich, starrt mich an, erkennt mich zunächst nicht.
Kann ich Ihnen – ja, der Seilerbub!
Hallo Rosa.
Sie kommt an den Zaun. Alt ist sie geworden, dünn, hager, auch im Gesicht. Man sieht ihr den Kummer an. Sie sieht aus, wie die Bäuerinnen damals ausgesehen haben, wie ihre Mutter, die damals in diesem Garten stand. Ein Kopftuch hat sie auf und eine geblümte Schürze um. Ich möchte sie in den Arm nehmen, dabei an die Lammermutter denken und meine Kindheit, an den strengen Lehrer Geißreiter, an den Veit und alle anderen, die jetzt oben auf dem Friedhof liegen, und an die Bank vor mir in der Schule, wo die Rosa saß. Aber das tut man hier nicht, man nimmt sich nicht in den Arm. So ist eine gewisse Verlegenheit zwischen uns.
Wie geht’s dir denn? Dir geht’s gut, oder?
Ja. Und dir?
Sie seufzt.
Jamei.
Sie schweigt. Ich will ihr helfen. Der Benno, sage ich, hat mir alles erzählt.
Ja, dann weißt du ja, wie’s mir geht.
Wir schweigen, haben uns nichts zu sagen.
Warst lange nicht in Hausen.
Zuletzt, wie der Vater gestorben ist – das ist zehn Jahre her. Ich hab ja niemanden hier. Nur die Toten alle. Zu denen geh ich jetzt hinauf.
Sie schneidet ein paar Zweige vom Flieder ab.
Da, die legst du dem hin, den du am liebsten gehabt hast.
Danke.
Ich gehe den Kirchenberg hinauf, an der Schule vorbei. Vor dem Haus sitzen Schwarzafrikaner, Asylbewerber, die man hier einquartiert hat. Dann betrete ich den Friedhof. Hier liegen sie alle, die Lammers, der Stoff-Franz, die Wirtsleute, der Viehhändler-Jakob, der Holzer, der Messmer-Ludwig unter der Selbstmördertraufe, da wo der Lechner, der Verräter, auch liegt. Dem Ludwig, den die Messmers nicht in ihr Familiengrab gelassen haben, hat man wenigstens ein kleines Marterl mit seinem Namen hingestellt, inoffiziell sozusagen, denn erlaubt ist das eigentlich nicht. Selbstmörder ist Selbstmörder.
Weitere Kostenlose Bücher