Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
verkündet ein Versagen, das schon bei den Eltern beginnt.
Das deutsche Jugendstrafrecht ist vor diesem Hintergrund und im Rahmen seiner Möglichkeiten sehr erfolgreich. Die Rückfallquote einmal sanktionierter Jugendlicher oder Heranwachsender liegt bei unter 5 Prozent. Utopie wäre es jedoch zu glauben, dass jeder straffällige Jugendliche oder Heranwachsende vor einer kriminellen Karriere bewahrt werden kann. Trotzdem kämpfen die Jugendgerichtshilfe, Jugendstaatsanwälte und Jugendrichter jeden Tag dafür. Bei den beiden Bankräubern hatte es leider nichts genützt. Ihnen würde nun ein anderer Wind entgegenwehen. Die gesetzliche Mindeststrafe für den Banküberfall lag bei fünf Jahren Freiheitsstrafe.
Ich hatte den Inhalt der Anklage bereits mit Jens abgesprochen. Sie musste wegen der hohen Straferwartung vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin erhoben werden. Das war in einer Buchstabenabteilung schon etwas Besonderes. Wir gingen sie Punkt für Punkt durch. Jens meinte, dass jeglicher Fehler bei dieser schweren Anklage unbedingt vermieden werden müsse. Sonst gäbe es mit Sicherheit einen »Extratermin« bei Dr. Ring.
Am nächsten Tag stellte ich die Anklageschrift fertig. Nur noch die Gegenzeichnung fehlte. Jens war jetzt jedoch für zwei Wochen im Urlaub, sodass ich Jörg die Anklage vorlegen |90| musste. Der befand, dass sie nochmals neu formuliert werden müsse, da es sich nicht um einen schweren Raub, sondern eine räuberische Erpressung handle. Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Straftatbeständen ist einer der umstrittensten Bereiche des Strafrechts. Ich war mir ziemlich sicher, dass ein Raub vorlag und wies darauf hin, dass der Fall mit Jens abgesprochen sei. Das interessierte Jörg jedoch nicht. Dann müsste ich eben bis zur Rückkehr von Jens warten. Das aber konnte ich nicht, da es eine dringende Haftsache war, und ohne Gegenzeichnung konnte ich keine Anklage erheben. Schließlich lenkte Jörg etwas ein und meinte, dass wir den Abteilungsleiter, Herrn Berndt, konsultieren könnten. Der reagierte auf diese fachliche Frage jedoch äußerst ungehalten: Das sei keine Sache, womit man einen Abteilungsleiter behelligen sollte. Wir hätten das unter uns zu klären. Ich war etwas verwundert über die schroffe Reaktion von Herrn Berndt. Zwar hatte er sich auch sonst bei Antworten zurückgehalten und war oft auf seine alten Fälle oder Urlaubserlebnisse ausgewichen. Diesmal war er jedoch richtig verärgert und hielt mir die Sache noch wochenlang vor. Als Jens später aus dem Urlaub zurückkam, erklärte er mir, dass Herr Berndt nicht mehr lange bis zur Pensionierung habe und die letzten Jahre überwiegend mit Verwaltungsangelegenheiten beschäftigt gewesen sei. In bestimmten Einzelfällen des Strafrechts sei er nicht mehr hundertprozentig fit und fürchte, sich mit einer falschen Antwort eine Blöße zu geben.
Nachdem Herr Berndt sich herausgehalten hatte, schilderte ich bei der Kaffeerunde am nächsten Morgen Gerlinde und Mona den Fall. Beide plädierten auf Raub und so konnte ich schließlich Jörg umstimmen. Er zeichnete die Anklageschrift gegen.
|91| Froh und erleichtert wandte ich mich, nachdem die letzten Besucher unser morgendliches Café Jura verlassen hatten, meinem täglichen Aktenstapel zu. Der Kriminalitätsalltag einer Millionenmetropole. Was lag heute an? Die Stimmung konnten die Strafakten schon kraft ihrer Natur nicht aufhellen. Beim Lesen der zweiten Akte war die Laune aber wieder mal endgültig im Keller.
Es ging um einen kleinen Fernsehreparaturdienst namens Schulz. Ein ordentlich geführtes Geschäft in einem Wohnviertel. Meister Schulz trat in den verdienten Ruhestand und verkaufte den kleinen Laden an Hamsa C. Wie sich aus der Akte ergab, hatte weder dieser noch sein »Mitarbeiterstab« Ahnung von der Reparatur elektronischer Geräte. Hamsa C. ließ kleine Werbekärtchen in Briefkästen werfen, abgedruckt war eine Deutschlandfahne, er selbst gab sich als »Meister Schulz« aus. Es lagen zahlreiche Betrugsanzeigen vor, wonach Vorschusszahlungen entgegengenommen, an den Geräten jedoch nie Reparaturen ausgeführt worden waren. Nirgendwo in der umfangreichen Akte (sie umfasste sechs Bände) war ein Fall zu finden, wo eine Reparatur auch nur in Ansätzen erfolgreich gewesen wäre. Insofern war es keine ungewöhnliche Betrugsakte. Übelkeit kam jedoch auf, wenn man las, wie sich »Meister Schulz« gegenüber älteren Kunden (meist Rentnern jenseits der
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