Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
Pflichtverteidiger vom Gericht beigeordnet, den der Staat vergütet. Zwar muss der Angeklagte im Falle der Verurteilung die Kosten des Strafverfahrens tragen. Sehr oft gibt es da aber nichts zu vollstrecken.
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Haftakten und ihre Folgen
E nde März kündigten sich Neuigkeiten in unserer Abteilung an. Anna, wie ich auf Probe zur Staatsanwaltschaft abgeordnet, sollte nach über einem Jahr jetzt zu einem Gericht wechseln. Dafür sollte uns eine andere Proberichterin für zwölf Monate zugeteilt werden.
Ich hatte in diesen Tagen eine ganze Menge zu tun, da ich ein neues Ermittlungsverfahren mit zwei Beschuldigten aus Berlin-Neukölln zugewiesen bekommen hatte, die bereits in Untersuchungshaft saßen. In solchen Fällen muss sehr zügig ermittelt und möglichst schnell angeklagt werden. Die Strafprozessordnung schreibt vor, dass spätestens nach sechs Monaten die Anklage erhoben sein und das zuständige Gericht mit der Hauptverhandlung begonnen haben muss. Andernfalls droht die Freilassung der Beschuldigten. Nicht viel Zeit für den ermittelnden Staatsanwalt, zumal auch das zuständige Gericht einen Terminkalender hat und laufende Verfahren nicht einfach abbrechen kann.
Zudem bedeuten Untersuchungshäftlinge für den ermittelnden Staatsanwalt viel zusätzlichen Aufwand. So obliegt ihm zum Beispiel die Kontrolle der Briefe, die der Häftling nach draußen an Verwandte und Freunde verschicken will. Diese Briefe müssen durchgelesen werden. In der Untersuchungshaftanstalt Moabit sind die Untersuchungshäftlinge in sehr kleinen Zellen eingeschlossen. Teilweise können die |85| Häftlinge sich für zwei Stunden in einem begrenzten Bereich zwischen den Zellen hin und her bewegen oder sich in eine andere Zelle zu einem Gesprächspartner einschließen lassen. Den Rest des Tages verbringen sie allein oder – was die Regel ist – bei Mehrfachbelegung mit den Mithäftlingen in der Zelle.
Außerdem haben die Untersuchungshäftlinge eine Stunde täglich Freigang auf einem Innenhof der Vollzugsanstalt, wo sie beispielsweise, umgeben von Betonwänden, im Uhrzeigersinn ihre Runden um zwei Bänke drehen können. Dies ist eine wichtige Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu anderen Personen, die aber manchmal beschränkt wird. Insbesondere dann, wenn Verdunklungsgefahr besteht und zu befürchten ist, dass der Beschuldigte auf gleichfalls inhaftierte Mittäter, Anstifter oder Beihelfer der Straftat einwirken will, um die weitere Aufklärung der Tat zu verhindern. Es gilt auch, die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zu unbekannten Komplizen außerhalb der Haftanstalt einzuschränken. Diese könnten Tatwerkzeuge verstecken, die gesuchte Beute verschwinden lassen oder vielleicht sogar Zeugen bedrohen oder bestechen.
Alle Beteiligten wissen, dass die Untersuchungshaft in Moabit viel schlimmer als die eigentliche Strafhaft ist, die gewöhnlich in anderen Gefängnissen, zum Beispiel in der Justizvollzugsanstalt Tegel, vollzogen wird. Fast jedes Jahr gibt es in der Justizvollzugsanstalt Moabit mehrere Selbstmorde unter den Häftlingen. Es erfolgte wohl mal eine interne Anweisung, wonach nur noch »außergewöhnliche Fälle« der Öffentlichkeit mitgeteilt werden sollten. Aber die Presse bekam bald Wind davon und protestierte heftig.
Die unerträgliche Situation in der Untersuchungshaft |86| wirkt sich direkt auf die Menge und Länge der geschriebenen Briefe aus. Sie sind eine der wenigen Möglichkeiten, der Enge der Mauern, der Einsamkeit und dem psychischen Druck ein wenig zu entfliehen. Für den ermittelnden Staatsanwalt gibt es also eine Menge Gefangenenbriefe zu lesen. Will der Beschuldigte Informationen nach draußen schaffen, um Beweise zu vertuschen oder sogar seine Flucht vorzubereiten? Sind die Briefe in ausländischer Sprache geschrieben, müssen sie zunächst von einem Dolmetscher übersetzt werden, um eine Kontrolle zu ermöglichen. Natürlich kann der Staat nicht jeden Tag fünf lange Briefe eines Beschuldigten übersetzen lassen. Die verursachten Kosten wären zu hoch. Eine akzeptable Lösung zu finden ist schwer. Häufig beantragt der Beschuldigte bei einer Ablehnung dann eine Ausnahmegenehmigung oder beschwert sich. Nicht selten mit Erfolg. Die Gerichte prüfen dann im Einzelfall, wie viele Briefe es täglich sind, ob sie an Familienangehörige gerichtet sind oder was der Beschuldigte sonst an Gründen vorträgt.
Die beiden Neuköllner Jungs aus meinem neuen Ermittlungsverfahren waren für ihr noch recht junges Alter
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