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Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt

Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt

Titel: Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pragst
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70) verhalten hatte. Er hatte dann eine unglaubliche »Fürsorglichkeit« an den Tag gelegt. Etwa gegenüber der 9 1-jährigen Rentnerin, deren Fernbedienung für den Fernseher plötzlich nicht mehr funktionierte. Da das Geschäft von »Meister Schulz« gleich im Nachbarhaus war, begab sie sich in den Laden.
    »Meister Schulz« sah die Fernbedienung in der Hand der alten Frau und konnte schon per Ferndiagnose erkennen, |92| dass der Fernseher kaputt war und es am besten war, wenn er gleich mit in die Wohnung kam. Dort erklärte er nach einem Blick auf den Fernseher, dass dieser sofort ausgetauscht werden müsse. Er sei nicht mehr zu reparieren. »Meister Schulz« versprach, einen neuen Apparat zu besorgen. Wenig später stellte er der Rentnerin ein neues Gerät aus einem Elektrogroßmarkt, wo es etwa 700   Euro kostete, für 2800   Euro hin. Aber damit war das segensreiche Wirken von »Meister Schulz« noch nicht beendet. In überraschtem Ton berichtete er der alten Frau, dass die Waschmaschine einen Blitzschlag abbekommen habe und umgehend ausgetauscht werden müsse. Auch diesmal lieferte er ein ähnliches »Schnäppchen«. Als die alte Dame per Überweisung bezahlen wollte, forderte »Meister Schulz« das Geld sofort in bar. Widerworte ließ er nicht zu. Die 9 1-Jährige meinte hilflos, dass sie in der Wohnung nur noch ihren Notgroschen aufbewahre, der für ihre Beerdigung vorgesehen sei. Außerdem sei sie aufgrund ihres Alters nicht mehr in der Lage, das Bargeld abzuzählen. Das übernahm »Meister Schulz« nun wieder gerne! Wie sicher nicht überrascht, musste er feststellen, dass noch 200   Euro auf den Kaufpreis fehlten. Glücklicherweise konnte »Meister Schulz« sofort eine Lösung präsentieren. Er fuhr sein Opfer mit seinem Pkw zur Sparkasse, wo er der Frau am Geldautomaten beim Abheben der 200   Euro half. Erst viel später wurde ihr mitgeteilt, dass nicht 200, sondern 1000   Euro entnommen worden waren. Kurz darauf gingen weitere 5000   Euro per Überweisung vom Konto der alten Frau für eine Kücheneinrichtung ab. Das Geld landete auf dem Konto des Vaters von »Meister Schulz«. Eine Kücheneinrichtung wurde niemals geliefert.
    |93| Beinahe erleichtert stellte ich fest, dass die »Serviceleistung« für die Rentnerin schließlich ein Ende gefunden hatte. Nachdem ich über zwei, drei weitere Opfer des Fernsehdienstes gelesen hatte, ließ ich erst mal frische Luft ins Zimmer. Irgendwie sah ich das Bild einer riesigen Wanderheuschrecke vor mir. Gab es wirklich Täter, die noch ruhig schlafen konnten, nachdem sie derart wehr- und schutzlosen alten Mitmenschen das letzte Geld für die Beerdigungskosten abgenommen hatten? Gab es nicht ein absolutes Mindestmaß an Erbarmen und Mitleid, das einem irgendwann Einhalt gebietet? Gab es keine »Verbrecherehre« und Grenzen der Skrupellosigkeit? So naiv diese Fragen wirken mögen, viel erschütternder waren die Antworten, die mir in Form von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten um die Ohren geschlagen wurden. Akten, welche alle Dimensionen menschlicher Bosheit offenbarten. Die beim Lesen den Klang eines Trauermarsches heraufbeschworen, der Tag für Tag die Räume des Kriminalgerichts durchzog.
    Beim Mittagessen erzählte ich Gerlinde und Mona von dem Fall – irgendwie wusste ich schon, dass ihnen der Appetit nicht vergehen würde. Mit Appetitlosigkeit hatte ich selbst aber auch nicht zu kämpfen, ich war da gut vorbereitet. Schließlich ist mein Vater Toxikologe in der Rechtsmedizin. Des Öfteren drehte sich mittags bei uns zu Hause das Gespräch um gewisse pathologische Themen. Leichen zum Beispiel sind nicht einfach nur tot. Dort ist auch noch sehr viel Leben, insbesondere im Sommer.
    Wir saßen in der Kantine im fünften Obergeschoss des C-Baus , einem der zahlreichen Anbauten des Kriminalgerichts. Es gibt noch eine weitere Kantine, ganz unten im Altbau. Früher, als Staatsanwälte, Richter, Verteidiger und |94| Angeklagte ihre Tomahawks vor dem Eingang der Kantine begruben und drinnen in den verqualmten riesigen Hallen gemeinsam aßen und auch mal zechten, war das die einzige Restauration. Sie war viel größer als heute, wo orange Plastikstühle auf Linoleumboden stehen und von fahlem Neonlicht beleuchtet werden. Vor allem Zeugen und Angeklagte, manchmal auch Verteidiger verkehren hier. Die alteingesessenen Richter und Staatsanwälte essen gewöhnlich in der anderen Kantine oben im C-Bau . Es gibt sogar eine ungeschriebene Sitzordnung. Als ich einmal

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