Auf dem Jakobsweg
geschehen, durchfuhr ein Windstoß das Haus, und der Hund stieß ein lautes Heulen aus und stürzte sich auf mich. Ich hob den Arm, um mein Gesicht zu schützen, brüllte ein Wort und erwartete den Aufprall.
Der Hund warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich, und ich fiel auf das Sofa. Einige Sekunden lang starrten wir einander Auge in Auge an, dann rannte er unvermittelt aus dem Haus.
Ich begann hemmungslos zu weinen. Ich erinnerte mich an meine Familie, an meine Frau und an meine Freunde. Eine ungeheure Liebe erfüllte mich, eine unendliche Freude, die mir jedoch zugleich absurd vorkam, da mir bewußt war, was mit dem Hund passiert war. Petrus packte mich am Arm und führte mich hinaus, während die Frau uns beide vor sich herschob. Ich blickte um mich, doch der Hund war spurlos verschwunden. Ich legte meinen Arm um Petrus und hörte nicht auf zu weinen, während wir in der Sonne wanderten.
An den zurückgelegten Weg kann ich mich nicht erinnern, ich kam erst wieder zu mir, als ich an einem Brunnen saß und Petrus mir das Gesicht und den Nacken anfeuchtete. Ich bat um einen Schluck Wasser, doch er sagte, mir würde nur übel werden, wenn ich etwas tränke. Eine unendliche Liebe für alles und für alle durchflutete mich. Ich blickte um mich und sah die Bäume am Straßenrand, den kleinen Brunnen, bei dem wir gehalten hatten, spürte die frische Brise und hörte die Vögel im Wald singen. Es war, wie Petrus mir gesagt hatte: Ich sah das Antlitz meines Engels. Auf meine Frage, ob wir schon weit vom Haus der Frau entfernt seien, antwortete er, daß wir schon mindestens eine Viertelstunde gegangen seien.
»Du willst sicher wissen, was geschehen ist«, meinte er. Im Augenblick interessierte es mich nicht. Der Hund, die Frau, der Wirt waren ferne Erinnerungen, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich jetzt fühlte. Ich sagte Petrus, daß ich gern weitergehen wolle. Mit mir sei alles in Ordnung.
Ich stand auf, und wir nahmen den Jakobsweg wieder auf. Während des verbleibenden Nachmittags war ich wortkarg, immer noch in dieses angenehme Gefühl getaucht, das alles zu erfüllen schien. Hin und wieder dachte ich noch, daß Petrus etwas in den Tee getan haben mußte, doch auch das war letztlich unwichtig. Was zählte, war, daß ich die Berge, die Bäche, die Blumen am Wegesrand, das herrliche Antlitz meines Engels sah.
Um acht Uhr abends erreichten wir ein Hotel, und ich befand mich noch immer - wenn auch nicht mehr ganz so intensiv - in diesem seligen Zustand. Der Besitzer bat um meinen Paß, um mich einzutragen. »Sie sind aus Brasilien? Da war ich schon mal. In einem Hotel am Strand von Ipanema.«
Dieser absurde Satz brachte mich wieder in die Realität zurück. Mitten auf der Rota Jacobea, in einem vor vielen Jahrhunderten gebauten Dorf, gab es einen Hotelier, der den Strand von Ipanema kannte.
»Wenn du jetzt mit mir reden willst, ich bin bereit«, sagte ich zu Petrus, »ich muß wissen, was heute geschehen ist.« Der Zustand der Seligkeit war vorüber. An seine Stelle war wieder der Verstand mit seiner Angst vor dem Unbekannten und mit der dringenden Notwendigkeit getreten, mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen.
»Nach dem Abendessen«, antwortete er.
Petrus bat den Hotelbesitzer, den Fernseher einzuschalten, jedoch ohne Ton. Er meinte, so könne ich am besten zuhören, ohne zu viele Fragen zu stellen, weil ein Teil von mir das ansehen würde, was auf dem Bildschirm passierte. Er fragte mich, bis zu welchem Zeitpunkt meine Erinnerung zurückreiche. Ich antwortete ihm, daß ich mich an alles außer an unseren Weg zum Brunnen erinnern könne.
»Das ist unwichtig«, antwortete er. Im Fernsehen begann irgendein Film, in dem es um Kohlebergwerke ging. Die Darsteller trugen Kleidung der Jahrhundertwende. »Gestern, als ich das Drängen deines Boten spürte, wußte ich, daß dir auf dem Jakobsweg ein Kampf bevorstand. Du bist hier, um dein Schwert zu finden und die Praktiken der R.A.M. zu lernen. Doch jedesmal wenn ein Führer einen Pilger geleitet, gibt es mindestens eine Situation, die sich der Kontrolle beider entzieht und die so etwas wie eine Prüfung der praktischen Umsetzung des inzwischen Gelernten ist. In deinem Falle war es die Begegnung mit dem Hund.
Die Einzelheiten des Kampfes und warum Dämonen häufig in Tieren leben, erkläre ich dir ein andermal. Wichtig ist jetzt, daß du begreifst, daß diese Frau bereits an den Fluch gewöhnt war. Für sie war er etwas Normales, in das sie sich geschickt hatte, und
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