Auf dem Weg nach Santiago
Sehnenzerrung hatten mir zwei schwierige Tage
eingebracht; darüber hinaus machte der Regen jede Rast so gut wie unmöglich.
Pierre flatterte vor mir her auf der
Suche nach einem Blümchen für was weiß ich welches Herbarium. Ich habe ihn im
Verdacht, mich zu unserem Besten provoziert haben zu wollen. Als er mich
nämlich genötigt sah, zu steile Abstiege rückwärts anzugehen, fürchtete er für
die Fortsetzung unserer Wallfahrt. In Wirklichkeit ist das Tier in uns stets
kräftiger, als man vermutet. Wann sind wir denn Weichlinge geworden? Ich habe
mich jedenfalls rasch wieder aufgerappelt.
Nie habe ich daran gezweifelt, das Ziel
zu erreichen. Jetzt aber, da alles bessergeht, da ich aufs neue Nahrung zu mir
nehmen und den Fuß auf die Erde setzen kann, jetzt glaube ich wohl, daß ich gar
keine Lust mehr habe, das Ende unserer Wanderung zu erreichen. Ich könnte zum
Beispiel zehn Kilometer vor Compostela am Flughafen auf Pierre warten. Ich sage
ihm das. Er hält es für einen Witz. Ich habe noch fünf Tage, um mich zu
entscheiden.
Tagebuch P. Barret
Bis jetzt steht es zwischen Jean-Noel
und mir gut. Ich staune immer wieder darüber. Fünfzig kleine Entscheidungen
haben wir jeden Tag zu fällen, jede einzelne könnte je nach Laune als Vorwand
zu gefährlich widersprüchlichen Debatten führen. Zu zweit ist eine Demokratie
unmöglich. Soll man nach links gehen oder nach rechts? Soll man im Schatten haltmachen
oder in der Sonne? Soll man den geplanten Tagesmarsch auf jeden Fall zu Ende
bringen oder es auf morgen verschieben? Die Antworten müssen so klar und so
unmittelbar auszuführen sein, daß eine Gemeinschaft wie die unsrige nur dann
die Chance hat, ihr Ziel zu erreichen, wenn jeder erstens um jeden Preis bereit
ist, dem Erfolg des gemeinsamen Unternehmens das Vorrecht einzuräumen, und
zweitens überzeugt ist, daß der andere das gleiche denkt und tut.
Jeder mußte lernen, spontan oder mit
Überlegung die Freiheit des anderen vor die eigene zu stellen.
Jean-Noel meint, er habe keine Lust,
Compostela zu erreichen. Ich kann nur hoffen, daß er seine Meinung ändert.
Gemeinsames Wegtagebuch, Dienstag, 7. Juni.
Morgen Compostela. Die Tage überstürzen
sich. Man fragt uns nicht mehr, wohin wir gehen, sondern fragt uns, woher wir
kommen.
Galicien fasziniert uns. Es ist ein
altes keltisches Land, wo die Zeit Wege, Brunnenränder und Gesichter gezeichnet
hat. Alles erscheint uns archaisch, aus einer anderen Zeit.
Der Boden der Höfe und Gassen ist ein
Gemisch von Schlamm und Mist, in dem die Leute mit hochgestelzten Holzschuhen
herumstapfen. Träge Kühe ziehen zwischen Bohnen- und Kohlfeldern schmale Karren
mit Scheibenrädern. Es wird zur Zeit Mist gefahren: Man führt ihn hinaus auf
die Felder und bringt Ginster ein, um den Mist für das nächste Jahr zu
bereiten. Zwei starke Gerüche unter der Sonne. Bei der Feldarbeit führen die
Frauen die mageren Gespanne, während die Männer dahinter den Stiel
altertümlicher räderloser Pflüge niederdrücken, wie man sie bei uns für Museen
sucht. Zehnmal, zwanzigmal durchgekämmte Felder. Sorgfalt und Geduld ersetzen
das moderne Werkzeug. Die gallegos [Galicier; Anm. d. Ü.] sprechen
unterwegs zwischen ihren exakt gezogenen Einfriedungen mehr mit ihren Kühen,
die zu allem nützlich und Freunde der Familie sind, als mit ihren Frauen.
Das eine oder andere Mal haben sie uns
eingeladen zu einem Glas tinto (Rotwein) in ihren höhlenartigen Fläusern
aus Granit. Dreck und Trostlosigkeit. Zweifellos wissen sie jetzt — die Straße
und das Fernsehen sind niemals mehr sehr weit weg — , daß der Fortschritt existiert. Aber sie drücken die Augen zu und klammern sich
an ihre einzigen Gewißheiten.
Erscheinen sie uns deswegen so häßlich,
weil sie so ungeschlacht und schmutzig sind? Mißgebildeter Körper, zahnloser
Mund, wulstige Stirn — die Häßlichkeit des Elends und der Verzweiflung. Lachen
wir nicht. Sie sind uns verwandt, nur wenige Jahrhunderte entfernt.
Das ärmliche Leben der armen Leute
sollte niemanden täuschen. Aber die Beschädigung von Natur und Umwelt muß doch
sehr stark sein, daß wir ein solches Theater daraus machen, wenn wir einen
Mistkarren, gezogen von Kühen, im Schein der untergehenden Sonne entschwinden
sehen.
Tagebuch J.- N. Gurgand
Ich gehe schließlich doch nach
Compostela. Ich bin ein vernünftiger Extremist.
Gemeinsames Wegtagebuch, Mittwoch, 8. Juni.
Monte del Gozo, auf französisch
Montjoie [Freudenberg; Anm. d.
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