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Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

Titel: Auf dem Weg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Noel Pierre / Gurgand Barret
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Leuten begegnen und
nicht einmal jedes Jahr, und wir bilden uns ein, daß er vor Neugier stirbt.
Aber nein! Er zieht weg vom Weg und mit ihm seine Herde. Aus zweihundert Metern
Abstand antwortet er auf unseren Gruß mit einem kurzen Wink. Wir interessieren
ihn nicht.
    Oder hat er vielleicht Angst? Aymeri
Picaud erzählt, daß in den gleichen Gegenden Pilger früher mit Haut und Haar
von Wölfen verschlungen wurden oder auch von Heuschrecken. Die Dörfer sind voll
von Geschichten, in denen die schweren, eisenbeschlagenen Pilgerstäbe der
»Gotteswanderer« nicht nur als Stöcke für alte Leute dienten. Trotzdem — daß
man vor uns Angst haben kann, das interessiert uns doch ziemlich.
     
     
    Tagebuch J.-N. Gurgand
     
    Moi,
compagnon du camino
    Suis
convaincu qu’un sparadrap
    Au
talon d’un sanglant panard
    Au
grand jamais n ‘abolira
    L’horripilant
cal du hasard
    Nous
n ‘irons pas à Santiago
     
    Nun
hink’ ich schon, am Fuß ganz wund
    und
schläfrig Aug’ tut mir wohl kund,
    daß
Ruh’ gar nötig ich bald hab’
    ach
säh’ ich doch Jakobus’ Grab!
    Noch
nützlich Marschstab hart mich stützt
    ich
bitt’, daß mich Sankt Jakob schützt.
     
    Es hat mich gut eine Stunde gekostet,
diese Reimspielerei ohne »e« zu schmieden. Verlorene Zeit?
    Bernès sagt, die Öde der Landschaft sei
geeignet, Selbstbesinnung und Meditation zu fördern. Es tut mir leid, Monsieur
l’Abbé, aber ich weiß nicht, wovon Sie reden. Vorausgesetzt, daß »sich sammeln«
irgend etwas bedeutet, so erschienen mir die Momente der inneren Sammlung in
Kirchen und auf Friedhöfen stets als völliger Bluff.
    Ich glaube auch, daß das Wandern eine
Übung ist, die den ganzen Kopf in Schwung bringt. Wir reden wenig unterwegs,
und auch das Wenige gilt nur dem jeweils gerade Nötigen: daß die Sardinen unverdaulich
sind, daß die Strümpfe gewaschen werden müssen, daß die Feldflasche fast leer
ist... Sammlung? Keine Zeit dazu.
     
    Gemeinsames Wegtagebuch, Samstag, 28. Mai.
    Sahagún glich der Kulisse für einen
Wildwestfilm, nach Art einer verlassenen mexikanischen Stadt: rote
Backsteinbauten, halb eingestürzte Fassaden, Wirbelwind, Fliegen, Raben,
Dumpfheit, ohne von dem Zug zu reden, der völlig unerwartet aus der Wüste
auftaucht. Seltsamer Ort, wo sich Romanisches, Gotisches und Maurisches an den
blaßrosa Giebeln verfallener Paläste mischen. Wir wären wohl ein wenig länger
hier geblieben, um alles anzuschauen, aber wir waren nur noch ungefähr vierhundert
Kilometer von Compostela entfernt — zehn oder zwölf gute Tagesmärsche — , und allmählich schwirrte uns der Kopf.
    Wir überließen Sahagún seinem staubigen
Geschick. Stundenlang gingen wir nun zwischen endlosen Feldern dahin: das
Kastilien des Weizens. Wir hatten den Eindruck, wie einst Mose durch das Rote
Meer, durch ein grünes Meer zu ziehen, zwischen zwei lebenden Mauern, auf dem
sehr provisorischen Weg, der sich vor uns öffnete und sich hinter uns wieder
schloß.
    Welch ein Gegensatz in León, und welche
Erholung! Vielleicht deshalb, weil die Kathedrale denen von Reims, Amiens und
Beauvais so sehr ähnelt. Wir fühlen uns zu Hause in dieser Stadt und begreifen,
wie sehr der »Weg« uns noch mit Frankreich verbindet. Nicht umsonst hat er
seinen alten Namen bewahrt: camino francés.
     
    Tagebuch P. Barret
    In Astorga sind wir an einer jener
Zellen vorbeigekommen, die, in den dicken Mauern ausgespart, mit der Außenwelt
nur durch ein zwei Meter über dem Boden liegendes Loch verbunden waren. Hier
ließen sich Frauen bis zu ihrem Tod einmauern, um ihr Heil sicherzustellen; sie
fristeten ihr Leben mit den Gaben, die ihnen die Vorübergehenden, »von ihrer
Heiligkeit erbaut«, zusteckten.
    Ich verabscheue eine solche
Religiosität, die sich so gut einzurichten weiß. Oder wußte? Nie werde ich jene
Schulpause vergessen: Unvermittelt forderte mich ein Jesuitenpater auf, ihm in
sein Büro zu folgen. Es war im Jahre 1948, ein sonniger Tag. Er legte seine
Hände auf meine Schultern. »Mein lieber kleiner Pierre, der Herr hat dich
ausgezeichnet... Deine Mama ist gestorben...« Und während der Schock mich
lähmte, zog er mich in die Kapelle hinüber. »Komm, wir werden dem Herrn für
diese Prüfung danken...«
    Ein anderer von diesen guten Patres
hatte sich in Sachen Berufungen spezialisiert. Er fragte uns sehr eindringlich
aus, vor allem während der Beichte: »Bist du sicher, daß Gott dich nicht
berufen hat? Du mußt achthaben auf seine Stimme! Weh dir, wenn er

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