Auf dem Weg nach Santiago
fragten, wie wir heißen.
»Mein Name ist unter meine Schuhe geschrieben. Wie meine Schuhe abgenutzt sind,
so ist mein Name ausgelöscht«, war unsere Antwort.
Wenn die Alten auf dem Weg ihre Füße
abnutzten, nutzten sie gleichzeitig ihre Sünden ab. Aber ich? Und warum sollte
ich meinen Namen auslöschen?
Tagebuch P. Barret
Burgos: Diese triumphierende Gotik, die
sich da zum Himmel reckt — emporstrebende Statuen, schmale Farbfenster,
schwindelerregende Spitzbögen — , sie scheint dazu geschaffen, das gemeinsame
Beten wie ein Lied zu einem unnahbaren und majestätischen Gott hinaufzuheben.
Architektur der Herrlichkeit.
Das Barock kommt mir vor wie ein Verrat
der Kirche an Gott. Das Schmückende übertrumpft das Symbol, der Ritus hat
Vorrang vor dem Glauben. Architektur der Augenweide.
Dagegen fühlte ich mich im Halbdunkel
der Romanik unter den Rundbogen wie »verzaubert«, bereit zu einem Zwiegespräch
mit dem menschgewordenen Gott. Architektur der Liebe.
Gemeinsames Wegtagebuch, Freitag, 27. Mai.
Als wir Burgos verließen, kamen wir an
einem Denkmal vorbei, das zu Ehren der 1938 »für Gott und für Spanien«
gefallenen deutschen Flieger errichtet worden war. Etwas weiter weg rief ein
Anschlag die Bevölkerung auf: »Einwohner von Burgos, die Heilige Jungfrau
erwartet euch. Öffentlicher Sühnerosenkranz für die Kirche, für Spanien und für
den Frieden, jeden Samstag im Mai.« Wir haben das alles aufgesammelt wie ein
Sommerfrischler Muscheln — ohne aber zu wissen, in welche Tasche wir es stecken
sollten.
Das Kastilien hinter Burgos hat uns
glücklicherweise ein anderes Gesicht gezeigt als das davor, mit seinen blau und
braun triefenden Horizonten, die uns an Island erinnerten. Alles ist anders
geworden, die Landschaft, das Wetter und auch die Stimmung. Der Regen hatte uns
mürrisch gemacht, und wir gingen nicht mehr aus uns heraus. Zwischen Burgos und
León aber, auf fast zweihundert Kilometer Länge, sind wir offenen Auges tüchtig
zugeschritten und haben Bilder und Augenblicke aufs Geratewohl in Hülle und Fülle
eingebracht.
Castrogeriz, das die Franken
»Quatre-Souris« nannten. Festung der Goten, dann der Mauren von Córdoba (8 8
2); später wurde es den Aragoniern durch die Kastilier weggenommen. Sie machten
den Platz zu einem »ruhmwürdigen und unangreifbaren« Vorposten des Landes.
Ebenso unnütz auch. Diese stark befestigte Burg lag abseits der neuen großen
Verkehrswege und verbrachte ihr Dasein sinnlos auf ihrer Bergspitze; die
Geschichte verlief anderswo. Das langhingezogene und stille Tal voller Blumen
hat etwas Rührendes an sich gleich einem verfehlten Geschick.
Itero del Castillo. Wir haben nahe beim
Río Pisuerga geschlafen, in der Ruine einer romanischen Kapelle. Ein schlichter
Altar, aber gleichwohl einige Milliarden Sterne wert ...
Boadilla del Camino. Ein Dorf aus
ockergelben Strohlehmhütten am Ende der Welt. Dunkelgekleidete Frauen schlurfen
durch die Gassen. Nicht einmal Autos sind zu sehen. Auf dem Kirchturm ein
Storchennest. Hinter der Kirche ein verwendungsfähiger gotischer Pranger. Alles
das ist so bedrückend wie nur möglich, als ob das Stöhnen der Gefolterten noch
aus den Ablagerungen der Mauern stiege.
Frómista, am Rand des Canal de
Castilla. Wir haben uns mit einigen Weggefährten zusammengefunden. Worte, die
wir wegen ihres Wohlklangs mit wahrer Lust wiederholten, haben sich nach und
nach ihres Sinnes entleert und sich mit Leben, mit guten und schlechten
Eigenschaften gefüllt, sind für uns zu vertrauten Persönlichkeiten geworden:
der abscheuliche chubasco (Regenguß), das allgegenwärtige también (auch), die Zwillinge nosotros (wir), der Doppelspion melocotón (Pfirsich) und vor allem das para beber im Restaurant (unser »Und zum
Trinken?«). Nebenbei gesagt, die Kirche San Martin ist eines der Wunderwerke am camino.
Zwischen Carrión und Sahagún eine weite
Ebene — sie würde bei einer Flachheitskonkurrenz den ersten Preis gewinnen. Wir
haben den Eindruck, auf der Stelle zu treten. Das Erstaunliche ist, daß diese
Landschaft außerordentlich verwirrend ist. Pußta, Steppe, Pampa, Feld, Tundra —
wo sind wir denn wirklich?
Plötzlich bewegt sich dort vorn aus dem
Nichts heraus undeutlich ein Schwaden wie die Urzelle am Rand des Nichts.
Un-end-lich-lang-sam sehen wir ihn Formen annehmen und die Umrisse eines
Menschen ausbilden. Es ist ein Schäfer, der unter einem uralten Regenschirm
Schutz vor der Sonne sucht. Er wird wohl nicht alle Tage
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