Auf dem Weg nach Santiago
Ü.]. Dort unten, fünf Kilometer weiter, ragt der
»Leuchtturm des Universums«, wie sich Johannes XXIII. ausdrückte, aus dem
Sprühregen empor. Ehemals fielen hier die Pilger auf die Knie, um dem heiligen
Herrn Jakobus dafür zu danken, daß sie endlich das Ziel ihres Weges vor sich
hatten. Der erste, der die Höhe erklomm, wurde »König« der Wallfahrt, und
dieser Name blieb ihm, ihm und allen seinen Nachkommen — Leroy. Heute sind wir
beide die Könige.
(Lassen wir sie hier stehen. Die Reise,
meine Damen und Herren, geht zu Ende. Es bleibt ihnen
nur noch, sich gemäß der Tradition zu waschen und umzuziehen, bevor sie
Compostela betreten. Übrigens ist der Tag ihrer Ankunft gut gewählt: Man hat
gestern eine in der Kathedrale versteckte Bombe entschärft.
Sie werden eine gastfreundliche, junge
und lebendige Stadt antreffen — zwanzigtausend Studenten von den achtzigtausend
Einwohnern. Die Stadt hat nichts gemein mit einem Super-Lourdes, das sie vor
zufinden fürchteten. Auch wird ihnen der trübselige Strand der Ernüchterung
erspart bleiben, an dem so oft eine lange Überfahrt endet. Das Ende ihrer Reise
wird diesmal wenigstens frohe Züge tragen, froh wiejener im 12. Jahrhundert von
Meister Mateo in Stein gehauene »Pörtico de la Gloria«, froh auch wie das
Geheimnis von Compostela: Dieses leere Grab, auf das sie fünfzig Tagelang
zugewandert sind — es liegt an ihnen, es zu füllen.
Sie werden sich aber hüten müssen,
sofort die Bilanz zu ziehen. Eine Reise, so sagt man, ist erst dann zu Ende,
wenn man sie dreimal gemacht hat: einmal vor dem Aufbruch, einmal auf dem Weg
und einmal bei der Rückkehr.
Sie werden natürlich ihre Notizen mit
Ungeduld sichten, sortieren, einordnen. Das ermöglicht ihnen wenigstens, an
ihre Freunde Perlen kleiner Erinnerungen zu verteilen:
- die weißgekleidete Erstkommunikantin
auf einer Schaukel;
- die lebensgroße Muttergottes mit
einem ebenso lebensgroßen Messer in der Brust;
- die Siesta bei Belodaro, die nach
Thymian und Schafen duftete;
- der Mönch, der mit kreisenden Hüften
und zitternden Knien einen Flamenco versuchte, um zu beweisen, daß er aus
Andalusien stamme; das war in Näjera, am Fuß steiler rötlicher Felsen, wo Du
Guesclin vom Schwarzen Prinzen und von Peter dem Grausamengeschlagen worden
war;
- der andere Mönch in Samos, der ihnen
Gastfreundschaft bot und ihnen lachend an vertraute, er sei von allen
Ordensleuten seiner Kenntnis nach der einzige, der noch an Gott glaube;
- das Bergdorf El Acebo, das sich zum
Sterben hingelegt hat und seine alten Knochen kaum mehr rührt;
- die Zwiebelsuppe und derRiojawein an
jenem Abend in Puente la Reina;
- ganze Tage im Wald;
- all die kleinen Friedhöfe in ihrem
schlichten Frieden; auch Jahrhunderte haben nicht vermocht, sie überquellen zu
lassen — der Mensch, dieses vergängliche Wesen...
Das ist alles. Sie werden schon
begreifen, was sie gesucht haben. Aber was haben sie denn eigentlich gesucht?
Sie werden länger als fünfzig Tage und fünfzig Nächte wandern müssen, um den
ganzen Umfang dessen, was sie suchten, auszumessen. Es ist beunruhigend, den
Sinn für das Heil verloren zu haben, wenn man den Sinn für die Sünde behalten
hat. Inzwischen haben sie noch ihre abgetretenen Schuhe wegzuräumen und ihre
Pilgermuschel an den Nagel zu hängen. Was sie dabei empfinden, das gehört zu
dem, was Mac Orlan seine »ganzpersönlichen Traurigkeiten« nannte.)
PROLOG
1 J. Vielliard: Le Guide du pèlerin de Saint-Jacques-de-Compostelle.
Mâcon, o.J.; Paris 4 1969.
2 Jean de Tournai, in: R. de La Coste-Mes-selière (zusammen mit J.
Vielliard): Deux relations inédites de pèlerinage à Compostel-leversl500 ;I.Jeande Tournai (p ar terre) 1488 (übertragen von J.
Vielliard); II. Jean de Zielbeke (par mer) 1512 (übertragen von R. de La
Coste-Messelière). Die Handschrift befindet sich bei der Société de
l’Histoire de France; Veröffentlichung in: Annuaire-Bulletin de la S.H.F.
3 P. Caucci: Las peregrinaciones italianas a
Santiago de Compostela. Santiago 1971.
4 M. de Bonnault d’Houët: Le pèlerinage d’un paysan picard. Montdidier
18 90, S. 2.
I. KAPITEL
1 R. de La Coste-Messelière (Hrsg.): Pèlerins et chemins de
Saint-Jacques en France et en Europe, du X e siècle à nos jours.
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Musée Condé in Chantilly, Paris
1965.
2 A. Beaufrère: Aurillac et la Haute-Auvergne sur les chemins de
Compostelle. Aurillac 1978, S. 38.
3 M. Vidal:
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