Auf dem Weg nach Santiago
spanischem Boden zu
einem einzigen Weg vereinen: einer verläuft über Saint-Gilles, Montpellier,
Toulouse und den Somportpaß; ein anderer über Notre-Dame du Puy, Sainte-Foy de
Conques und Saint-Pierre de Moissac...«
Der Pilgerführer verdeutlicht: »Der
Weg, der über Sainte-Foy verläuft, der andere, der Saint-Léonard durchquert,
und jener über Saint-Martin, sie vereinigen sich alle drei bei Ostabat. Von da
ab geht es über den Cize-Paß. Bei Puente la Reina schließt sich der andere,
über den Somportpaß führende Weg an; von da ab ist es dann nur mehr ein
einziger Weg bis nach Santiago...« Offensichtlich kannte der Verfasser den Weg
von Tours und den camino francés in Spanien aus eigenem Erleben.
Der Tod der Pilgerbewegung
Bis zum 14. Jahrhundert erfreute sich
der Pilgerweg nach Santiago immer noch großer Beliebtheit. Die Krise, die im
14. Jahrhundert mit ihrem Gefolge von Kriegen und Seuchen das Abendland
erschütterte, blieb auf dieses Pilgern und die Geistesverfassung der Wanderer
freilich nicht ohne Einfluß. Eine neue Art des Reisens brach sich Bahn. Die
Reiseberichte geben davon Zeugnis. Anscheinend fand der Pilger jetzt Lust am
Wandern selbst. Eine schier unersättliche Neugierde an den durchquerten
Gegenden erwachte. Der Pilger gab sich einer ganz offensichtlichen Lebensfreude
hin, weit entfernt vom Geist der Zerknirschung und Askese, den wir ihm mit
aller Gewalt zuerkennen wollen. Am deutlichsten zeigt sich dieser Sinneswandel
darin, daß die begüterten Pilger lieber in den Wirtshäusern Halt machten als in
den Pilgerherbergen zu nächtigen.
Dann beginnt im ausgehenden 15.
Jahrhundert die Pilgerbewegung mit einem Schlag abzuflauen, und allmählich verschwindet
sie ganz. Die Religionskriege zerreißen Frankreich und machen das Wandern
außerhalb der Ortschaften zu einem allzu gefahrvollen Unternehmen. Darüber
hinaus geraten die Verehrung des heiligen Jakobus und
das Pilgern nach Compostela — wie alle mittelalterlichen Frömmigkeitsformen —
mit ihrer Nähe zum Aberglauben in Widerspruch zum neuen, aus der Reformation
und dem Humanismus geborenen kritischen Geist. Man liest im »Lob der Torheit«
eines Erasmus von Rotterdam den erstaunlichen Satz: »Nur ein Verrückter geht
nach Santiago .«
Die aus Deutschland, der Wiege der
Reformation, heranwandernden Pilger werden von den spanischen Obrigkeiten
verdächtigt, die lutherischen Ideen nach Spanien einschleusen zu wollen. Luther
selbst spricht sich gegen das Pilgern aus und fordert, es zu unterdrücken. Es
sei eine Gelegenheit zur Mißachtung der göttlichen Gebote, meint er. Ja, es
komme sogar vor, daß einer pilgere und dabei hundert und mehr Gulden ausgebe,
Frau und Kinder zu Hause aber dem Elend überlasse.
Falsche Pilger streunen auf den Straßen
herum: die »Coquillarden« oder »Muscheler«. Sie suchen auf Kosten der
öffentlichen Wohlfahrt zu leben und entwerten das Pilgern.
Ludwig XIV. verbietet unter
Galeerenstrafe, sich nach Spanien, dem Feind Frankreichs, zu begeben. Er
veröffentlicht einen Erlaß »gegen die Unordnung und Wirren, die unter dem
Schein der Frömmigkeit und der Pilgerschaft in das Königreich eingedrungen
sind«.
Übrigens verneinen auch gewisse
Theologen den geistlichen Nutzen des Pilgerns. Aber auch die politischen und
wirtschaftlichen Umwälzungen, das Anwachsen des Unglaubens und die gespannten
Beziehungen zwischen Kirche und Staat während des 19. Jahrhunderts haben zur
Fortdauer der Pilgerbewegung in das ferne Galicien keineswegs beigetragen. In
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Vergessen geradezu vollständig.
Die wiedererwachte Pilgerbewegung
Erst in den fünfziger Jahren des 20.
Jahrhunderts werden die Wege nach Santiago wieder zu Pilgerwegen, freilich auch
zu Wegen der Geschichte und Kultur. Verantwortlich für die neue Begeisterung
ist eine moderne Sicht dieser Wege. Es ist die Sicht des Archivars René de La
Coste-Messelière, für den mühevolles Pilgern und gelehrtes Wissen immer eine
Einheit bildeten.
1987 erhob der Europarat die Pilgerwege
nach Santiago zur ersten Kulturstraße Europas. Die UNESCO rechnet sie heute zum
Weltkulturerbe der Menschheit.
Die vier Wege
Der Guide du pèlerin de
Saint-Jacques de Compostelle kennt vier Wege nach Santiago:
Der erste Weg beginnt bei Arles,
verläuft dann über Saint-Gilles du Gard, Montpellier und Toulouse und führt
über den Somportpaß nach Spanien. Es ist die via tolosana oder via
egidiana ,
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