Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
1
Der Himmel blau. Keine Wolke, kein Hauch von Weiß. Die Luft steht, die Sonne scheint. Mara hat ihre Hand unter mein T-Shirt geschoben und krault meinen Rücken, meinen Nacken. Gänsehaut.
Ich wünsche mir, dass sie nie mehr damit aufhört.
Wir reden nicht viel, ab und zu ein paar Worte, die im Wellenrauschen verhallen.
Nichts bewegt sich. Nichts kann passieren. Ein Tag ohne Bedrohung. Katastrophen liegen fern.
Irgendwann sagt Mara mit ihrer hellen, klaren Stimme: »Lass uns gehen.« Sie löst ihre Hand von meiner Haut und strafft mein T-Shirt. »Komm, lass uns gehen, es fängt gleich an.«
»Was fängt an?«, frage ich.
»Der Regen.«
»Der Himmel ist blau und wolkenlos, die Sonne scheint«, sage ich.
Mara lacht. »Du bist nah dran.« Sie lacht und lacht und streichelt meine Wange.
Ich spüre Maras Liebe und die ersten Tropfen.
»Komm jetzt, das geht gleich heftig los«, sagt Mara und zerrt mich mit.
Sie hat recht, da ist der Regen, er prasselt auf uns ein.
»Komm schon«, ruft Mara, und jetzt bin ich es, der lacht.
Hagelkörner aus wolkenlosem Himmel.
Es ist der Tag, an dem Katastrophen fernliegen, es sei denn, sie sind bereits passiert.
Mara stellt mich unter die Dusche, trocknet mich ab, bringt mir einen Bademantel. Dann gießt sie Tee ein und reicht mir die Tasse. Wir schweigen. Ich konzentriere mich auf den Rhythmus des Regens. Ich höre, wie sich das Wasser in Pfützen sammelt, wie es im Rasen versickert. Die Terrassentür ist geöffnet, Wind weht herein. Mara reicht mir einen Teller mit Kuchen, der nach Zitrone schmeckt.
»Mara?«, sage ich.
»Ja?«
»Ich wollte deine Stimme hören.«
»Du hast am Nachmittag einen Termin im Krankenhaus«, sagt Mara.
»Heute nicht«, sage ich.
»Was heißt das, heute nicht?«
»Das heißt, dass ich nicht hingehen werde.«
»Und warum?«
»Einfach so.«
Ich spüre Maras Atem und ihre Hand, die an meinem Hals entlangstreicht. Wieder Gänsehaut.
Sie soll nicht aufhören.
Mara streicht die Tränen aus meinen Augen.
Die Insel ist das Bild, das Mara in meine Gedanken gezeichnet hat. Mara füllt meine Welt mit Bildern.
Das Bild in meinen Gedanken ist wie eine Karte, ein Lageplan. Die Insel ist mit dem Schiff erreichbar und kann mit dem Schiff verlassen werden. Dreimal täglich, morgens, nachmittags und abends, setzt die Fähre über. Mara schildert mir die Fähre als alten Kutter, den ich früher, als ich mit eigenen Augen sehen konnte, sicher nicht betreten hätte. Früher habe ich Angst gehabt, von Flugzeugen, Schiffen, Zügen fortbewegt zu werden. Ich habe mich in Unfällen sterben sehen. Ich habe nie jemandem davon erzählt.
Heute genieße ich, wenn ich auf der Fähre stehe, das Rattern des altersschwachen Motors und das Gefühl, sicher zu sein. Mit mir wird dieser Kahn nicht untergehen.
Auf meinem Lageplan der Insel habe ich das Meer blau ausgemalt, die Fähre pendelt als weißes, umgekehrtes Dreieck zwischen dem Festland und der Insel. Das Festland ist auf dem Lageplan nur angedeutet, ein Rechteck, das aus dem Bild herausführt und keine Bedeutung hat.
Die Insel ist ein grauer gelber roter grüner Kreis.
Grau die Klippen am Rand der Insel.
Gelb die kargen, trockenen Pflanzen.
Rot Maras Holzhaus auf dem Hügel.
Grün der Hügel.
Ich sehe Farben in Gedanken.
Die Stimmen der Menschen passen nicht zu Maras Beschreibungen. Ich sehe sie als Schattenrisse. Grau auf schwarz, fließende Bewegungen. Wenn die Menschen lachen, vibriert das Bild vor meinen Augen.
Ich spüre, wie der Tag abläuft, wie er sich auf Mara und mich herabsenkt. Der Hagelschauer ist in Regen übergegangen und der Regen in Wasser, das durch die Regenrinne abfließt und von Bäumen tropft.
Mara schweigt, aber ich spüre ihre Anwesenheit. Ich kneife die Augen zusammen und sehe sie als Schattenriss. Sie sitzt auf der Sofakante, sie hat etwas Abstand zwischen uns gelegt, vermutlich um mir zu zeigen, dass sie böse ist. Weil ich angekündigt habe, nicht ins Krankenhaus zu gehen. Von Zeit zu Zeit, in regelmäßigen Abständen, führt Maras Schattenriss die Teetasse zum Mund. Wenn ich noch einen Wunsch frei hätte, wäre es der, Mara zu sehen.
Die Klippen am Rand der Insel:
Mara sagt mir, dass die Klippen steil abfallen. Wer einen Schritt zu viel macht, stürzt tief in flaches Wasser.
Irgendwann steht Mara auf und ruft im Krankenhaus an. Ich höre ihre Stimme, die für mich spricht. »Es geht ihm heute nicht gut«, sagt sie, und nach einer Weile zu mir: »Sie haben morgen einen
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