Auf dem Weg nach Santiago
Jahrhundertelang war der Pilger an seiner Kleidung sogleich
erkennbar. Hinzu zählten noch der Wanderstab, der Bettelsack, die Kürbisflasche
(oder Feldflasche) und die Muschel.
»Wenn
man die Bettelsäcke und die Wanderstäbe überreicht, soll folgendes Gebet
gesprochen werden: Empfanget die Bettelsäcke und die Wanderstäbe und wandert zu
den Reliquien der Apostel im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes, damit ihr durch die Fürsprache der heiligen Maria, der Mutter Gottes,
und aller Apostel und Heiligen verdient, in diesem Leben die Vergebung aller
eurer Sünden zu erlangen und im künftigen Leben in die Gemeinschaft aller
Seligen aufgenommen zu werden« (aus dem Aufbruchgebet des römisch-germanischen
Pontifikales des 10. Jahrhunderts).
Der »Wanderer
Gottes«
Die meisten Pilger ritten. Allerdings
stiegen sie vom Pferd, sobald sie Santiago näherkamen. Die letzte Strecke
gingen sie. Unter den ärmeren Leuten pilgerten manche jedoch die ganze Strecke
zu Fuß.
Der Pilger mußte viel ausgeben. Man
erwartete von ihm zahlreiche Almosen. Auch die Gaststätten, in denen er
übernachtete, kosteten etwas. Übrigens konnte er es sich nicht erlauben, allein
zu wandern, vor allem nicht eine Frau, denn oft lauerten Räuber am Weg. In den
Monaten außerhalb der Winterszeit waren die Wege ganz besonders stark begangen.
Im Aubrac und vor allem in der Nähe von
Roncesvalles mußten die Pilger mit Wölfen rechnen. Berufsmäßige Plünderer
stürzten sich über die Pilger her und erschlugen sie auch zuweilen in der
Meinung, sie trügen sicherlich Geschenke für den Apostel bei sich. Die Pilger
mußten auch auf der Hut sein vor falschen Priestern, falscher Maut, falschen
Führern, vor leichtherzigen Damen und vor Wassergefahr. Tatsächlich überqueren
die Wege zahlreiche Bäche und Flüsse mit hohem und unregelmäßigem Wasserstand.
Überschwemmungen waren häufig, die Furten ungewiß und Brücken selten. Und
welches Wasser war trinkbar? Liest man die Ratschläge unseres Pilgerführers, ist man verblüfft. Das Bach- und Brunnenwasser war zwar nicht tödlich, doch
konnte es oft schwere Darmstörungen verursachen.
Glücklicherweise war der »Wanderer
Gottes« nicht schutzlos. Er erfreute sich des Schutzes der zivilen und
religiösen Obrigkeiten, die gehalten waren, ihm nach Vorweisen eines
Passierscheins Unterkunft und Tisch zu gewähren. Hier so ein Geleitbrief für
zwei hohe Herren im 14. Jahrhundert:
Louis,
Infant von Navarra, Stellvertreter des Herrn und Königs im genannten Navarra.
An alle Kreis- und Ortsrichter, Amtsleute, Vögte usw., die diesen Brief
einsehen, Gruß!
Aufgrund der besonderen Vergünstigung,
die Wir unseren lieben und guten Freunden, den Edlen Don Aymerich, Vicomte von
Narbonne, und Don Thiebaut von Verona, die als Pilger und romeros zu dem
Herrn Sankt Jakob von Galicien wandern, ausgehändigt haben, befehlen Wir Euch
und jedem von Euch streng, die genannten Edelleute und den Überbringer dieses
Briefes, sie und alle ihre Begleiter, zusammen mit ihren Tieren, ihrem Geld in
Gold und Silber und allem anderen Gut auf dem Hinweg, während des Aufenthalts
und auf dem Rückweg durch das genannte Königreich in aller Sicherheit,
Gebührenfreiheit und persönlichen Freiheit ziehen zu lassen, ohne daß sie
irgendeinen Zoll, irgendeine Nutzungsgebühr zu zahlen haben. Ihnen und jedem
von ihnen sollen auch Führer, Unterkunft und Verpflegung und alles sonstwie
Nötige auf Bezahlung hin gewährt werden, und dies jedesmal, wenn sie darum
bitten.
Gegeben zu
Estella, am 3. Augusttag im Jahre des Herrn 1360.
Das ist der Vorfahre unseres credencial ,
den sich alle Pilger besorgen, bevor sie aufbrechen, und den sie in den
Herbergen, den Pfarrhäusern und anderen Orten auf ihren Wegen bis nach Santiago
de Compostela vorzuweisen haben. Sie bekommen dann die Compostela , eine
Art Diplom, als Beweis dafür, daß sie ihren Pilgerweg zu Fuß gemacht haben.
Die Ankunft
in Compostela
Ob der Weg nun von Paris ausging oder
von Vézelay oder Le Puy — alle liefen bei »Gibraltar« in der Nähe von Ostabat
zusammen. Von hier aus ging es dann am Paß von Roncesvalles über die Pyrenäen.
Ein Steinmal mit einer eingemeißelten Muschel bezeichnet dieses Zusammentreffen
der drei Routen. Hier liegt eine der großen Wegkreuzungen des mittelalterlichen
und auch des heutigen Europa.
Der Pilger betrat Compostela durch die Puerta
del Camino (die nicht mehr besteht) und weiter unter
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