Auf dem Weg nach Santiago
dem Wind und den
Schwierigkeiten an den Wegkreuzungen teilen Sie mit ihnen vor allem die
bleischwere Müdigkeit am Abend — und auch den blendenden Glanz der Wunder, der
Legenden und berühmter Kirchen. Ihr Herz wird Ihnen zwar in der Brust brennen,
Schmerzen werden Sie aber an den Füßen haben, Sonne und Regen, endlose
Marschtage, Hunger, Durst, Feindseligkeit der Natur, vierfüßige und zweifüßige
Wölfe — alles wird auf Sie einstürmen. Pilger sein ist ein sehr ungewisses
Leben: Domenico Laffi wird Ihnen erzählen, wie er in Kastilien einen gesehen
hat, den die Heuschrecken bei lebendigem Leib auffraßen.
Zwar liegen zwischen der Wallfahrt des
kleinen Bonnecaze und der des Aymeri Picaud sechs Jahrhunderte. Doch der
Rhythmus, die Landschaft und das Leben auf dem Weg nach Compostela haben sich
in diesen sechs Jahrhunderten weniger gewandelt als im Verlauf unserer letzten
hundert Jahre.
Der Fortschritt nährt sich von
Verleugnungen, und die Unkrautvertilgungsmittel haben auch den Klatschmohn am
Wegrand vernichtet. Und doch ist der Mensch von der Zeit her, da alle Wege zu
Heiligtümern führten, in seiner Seele ein Pilger geblieben. Und vielleicht
bemißt sich die Entfernung, die von der Erde in den Himmel führt, immer noch
nach seinem Schritt, entlang der Straßen, der Böschungen, der Gräben.
erstes kapitel
MENSCHEN UNTERWEGS
Aus dem ganzen Abendland — Im Namen des Khan — Als Lösegeld für
die Seelen — Das beispielhafte Sterben des Wilhelm von Aquitanien — Bevor ich
aufbreche — An die Türken verkauft — Verzerrtes Lachen — Der Taube und der Stumme — Nicolas
Flamel — Du bist schon tot - Wird Bernard von Albret endlich aufbrechen? — Beruf:Pilger —
Die Strafwallfahrt
S ie bevölkern die Landschaft des
Mittelalters. Wie die Zugvögel zur Zeit ihres Abflugs versammeln sie sich im
Frühling und bilden Gruppen. April und September sind im Stundenbuch der
Herzogin von Burgund die Pilgermonate: 1 Aufbruch in der schönen
Jahreszeit, Rückkehr — so Gott will — vor der Weinlese und dem Winter. Aus
allen Winkeln des Abendlandes bricht man auf. Die Leute aus den Dörfern begeben
sich in die Marktflecken, sammeln sich hier, ziehen zum nächstliegenden
Heiligtum weiter oder, besser noch, zu einem der großen Sammelplätze des Weges
nach Compostela: Saint-Martin in Tours, Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay,
Notre-Dame in Le Puy und Saint-Trophime in Arles.
Sehr oft bleiben die Landsleute unter
sich; so können sie sich besser gegenseitig helfen, verteidigen, verstehen:
Sem pelgrin de vila aycela
Que Orlhac proch Jordan s’apela . 2
Wir sind Pilger aus Aurillac,
Der Stadt nahe der Jordanne.
Von einer Gruppe aus Moissac heißt es:
Eroun trento ou quaranto
Que parteren a Sen Jacque
Per gagna lou paradis
Moun Diou!
Per gagna lou paradis . 3
Wir waren dreißig oder vierzig,
Die nach Santiago aufbrachen,
Um das Paradies zu gewinnen.
Mein Gott!
Um das Paradies zu gewinnen.
In Paris finden sich die berittenen
Pilger am bestimmten Tag unten am Beginn der Rue Saint-Jacques ein, an der
Kreuzung »bei der Schmiede« vor der Apsis der Kirche Saint-Severin. Sie lassen
ihr Reittier segnen und zeichnen sein Fell mit dem glühenden Schlüssel der
Sankt-Martins-Kapelle; der heilige Martin war ja ein großer Reiter, und sie werden
ihn, ihren Beschützer, auf ihrem Zug durch Tours verehren können. 4
Die Engländer, die Iren und die
Schotten schiffen sich nahe der Insel Wight ein, in Portsmouth. Die Deutschen
folgen zunächst den Jakobsstraßen auf deutschem Boden und gelangen dann nach
Vézelay, oder sie ziehen den Rhein hinauf und die Rhone hinunter bis nach
Arles, wo sie sich den über den Großen Sankt Bernhard oder den Mont-Genèvre
herübergekommenen Italienern anschließen.
Auch Skandinavier, Esten, Kreter, ja
sogar Äthiopier und Inder machen sich auf den Weg. Um 1400 findet man ihre
Spuren in den Kanzleiarchiven der Könige von Aragonien, wo schon vorher ein
armenischer Bischof erwähnt worden war; hier wurden nämlich die Anfragen um
freies Geleit registriert. Was die Äthiopier betrifft, so weiß man, daß König
Alfons enge Beziehungen zum Negus unterhielt. Und die Inder? 1415 stößt man auf
einen gewissen Jacobus Brente aus dem »Königreich des Priesters Johannes«,
einem halbmythischen Land, von dem nicht wenige Orient-Kreuzfahrer träumten.
Dieser Jacobus Brente reist auf einem Maultier und hat als einziges Gepäck
etwas Geld
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