Auf den Flügeln des Adlers
sich ein wenig vom Eingang des Friedhofs entfernt hatten, brach Enid das Schweigen. »Fiona, meine Tochter, ich habe dir über die Jahre hinweg großes Unrecht getan. Ich habe mich der Sünde des Stolzes schuldig gemacht. Es war ein falscher Stolz, weil er dir so viel Kummer bereitet hat. Wir beide haben deswegen sehr gelitten, und ich möchte dich heute um Vergebung bitten.«
Fiona wandte sich um und blickte ihrer Mutter ins Gesicht. Hatte sie ihr wirklich die Hand gereicht, sich tatsächlich für zwei Jahrzehnte voller Feindseligkeit entschuldigt, die sie einander entfremdet hatten? Sie suchte in den Augen ihrer Mutter nach Anzeichen dafür, dass es sich um ein Täuschungsmanöver handelte. Vergeblich. Ihre Gefühle kamen ihr wie Blätter vor, die der Wind durcheinander wirbelte. In der Hitze des frühen Sydneyer Sommertages fühlte sie sich selbst wie ein solches trockenes Blatt, so hilflos war sie. Die Miene ihrer Mutter war die eines gequälten Menschen, der die Geister der Vergangenheit bannen wollte. Den Geist einer verlorenen Liebe zwischen Mutter und Tochter, die trotz allem nicht völlig vergessen war.
»Du weißt, dass ich eine Schiffspassage nach Deutschland gebucht habe«, erwiderte Fiona, »und dir ist bestimmt klar, warum.«
»Ich weiß, dass du zu Penelope gehst«, sagte ihre Mutter ruhig. »Ich kann nicht sagen, dass ich verstehe, was zwischen dir und ihr vorgeht, aber ich weiß, was ich empfinde. Ich war selbstsüchtig und habe großes Unrecht getan, als ich Patrick nicht von deiner Liebe erzählte.« Sie zögerte und warf einen Blick auf einen einsamen Totengräber, der im Schweiße seines Angesichts an einem Grab arbeitete. Dann wandte sie sich erneut ihrer Tochter zu. »Patrick hat mir aus Südafrika telegrafiert, dass er nach Sydney zurückkommt. Wahrscheinlich wird er erst nach deiner Abreise nach Europa hier eintreffen. Du sollst nur wissen, dass ich ihm bei seiner Rückkehr sagen will, dass du ihn liebst – und dass ich jahrelang die Wahrheit vor ihm geheim gehalten habe.«
»Das würdest du tun?«, fragte Fiona leise. »Du würdest riskieren, ihn zu verlieren, indem du ihm die Wahrheit sagst?«
»Ich bin seinem Vater nur ein einziges Mal begegnet«, sagte Enid mit einer Demut, die ihre Tochter in all den Jahren noch nie bei ihr gehört hatte. »Er besitzt Stärke und Charakter, wie ich sie bei keinem anderen Menschen gesehen habe. Aber in den Augen seines Sohnes habe ich sie gefunden. Der Junge ist der Sohn seines Vaters und deshalb zu Großem fähig. Ich vertraue darauf, dass er mir das Unrecht vergeben kann, das ich euch beiden angetan habe. Wäre Michael Duffy kein Papist gewesen, wäre er trotz seines niedrigen Standes der richtige Ehemann für dich gewesen.«
Fiona nahm die Hände ihrer Mutter in die ihren. Sie fühlten sich so zerbrechlich an, dass es ihr fast das Herz zerriss. Tiefes Mitgefühl mit Enid trieb ihr die Tränen in die Augen. Einen kostbaren Augenblick lang war diese Frau vor ihr nicht die starke, strenge Lady Enid, die rücksichtslos über ihr Finanzimperium herrschte, sondern eine gebrechliche, alte Frau: ihre Mutter.
»Du weißt gar nicht, was mir diese Worte bedeuten, Mama«, sagte sie mit tränenüberströmtem Gesicht. »Was auch immer von jetzt an in unserem Leben geschieht, sie sind für mich ein Schatz, den ich bewahren will, als wäre nie etwas Wertvolleres gesagt worden.«
Plötzlich machte Fiona eine seltsame Entdeckung. Etwas Unerhörtes ereignete sich: Ihre Mutter weinte.
»Ich weiß, dass er über das Meer reisen wird, um dich zu sehen«, stieß Enid schluchzend hervor. »Mein Enkel wird die Frau treffen wollen, deren Blut in seinen Adern fließt, so wie er seinen Vater kennen lernen wollte.«
Sie hielten einander in einer Umarmung, die all die Jahre der Verbitterung auslöschte, als hätte es sie nie gegeben. Mutter und Tochter versöhnten sich in Sichtweite von Granville Whites Grab.
Sanft löste sich Enid aus der Umarmung, ohne jedoch die Hände ihrer Tochter loszulassen. »Wirst du heute Abend mit mir essen?«
»Ja, Mama, das will ich gern.«
»Ich muss dir so viel über deinen Sohn erzählen, und uns bleibt wenig Zeit bis zu deiner Abreise.«
»Wir haben alle Zeit der Welt«, widersprach ihre Tochter sanft. »Auch wenn ich am liebsten zu meinem Sohn reisen würde, weiß ich doch, dass er mich aufsuchen wird, wenn die Zeit für uns beide gekommen ist.«
»Ich wünschte, wir hätten Zeit«, sagte Enid, während sie sich mit einem kleinen
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