Auf der Sonnenseite - Roman
er gar nichts machen. Und vielleicht sei das so, weil er sich einfach nicht als »Sieger« fühlen könne. Was ihn irgendwie verwirre. »Immerhin haben wir früher als andere nicht mehr mitgespielt in dieser Groteske, die uns als Sozialismus angepriesen wurde. Sind wir da, auch wenn wir’s gar nicht wollen, nicht doch so etwas wie ›Sieger der Geschichte‹?«
»Nein!« Sie war der festen Überzeugung, dass es gar keine »Sieger« geben konnte. »Weil’s die auf Dauer noch nie gegeben hat. Heute wirste beweihräuchert, weil alle Welt glaubt, dass du die einzig wahre Wahrheit herausgefunden hast, morgen entdecken sie den Irrtum und ruck, zuck wirste mit Dreck beworfen. Und warum? Weil all die Jubler sich ihres Irrtums schämen und mal wieder einen Sündenbock brauchen.«
Mit welch einfachen, klaren Worten sie das auf den Punkt gebracht hatte! »Und was machen die Jubler ohne ihren Irrtum?« Neugierig sah er sie an.
»Sie basteln sich ’ne neue ›Wahrheit‹. Ohne irgendeinen Glauben an irgendwas können sie ja gar nicht leben. Kaum haben sie den einen über Bord geworfen, langen sie schon nach dem nächsten.«
Einen Moment lang dachte sie nach, dann fügte sie noch hinzu, dass sie gar nicht wisse, wen sie mehr verachten solle, die »Sieger« im Westen, die immer schon gewusst haben wollten, wie es mal kommen würde, oder all jene ehemaligen Staatsträger, Mitläufer und Nutznießer im Osten, die jetzt mit Tränen in den Augen vorgaben, stets nur das Beste gewollt zu haben. »Diese ewig gleichen Selbstrettungsversuche der ewig gleichen Leute! Wie öden sie mich an. Erst nagen sie an jedem Knochen, den man ihnen hinwirft, dann wischen sie sich rasch den Mund ab und kucken beleidigt in die Runde.«
»Und wie, meinst du, wird alles weitergehen?«
»Wer kann das wissen?« Sie zuckte die Achseln. »Nur eines ist sicher: Leicht wird’s nicht! Doch haben wir ja gar keine Ausweichmöglichkeit, die ›Sieger‹ und die ›Verlierer‹ werden miteinander auskommen müssen.«
Noch nicht lange her, da hatte eine Umfrage ergeben, dass nur ein Prozent der Westdeutschen die Wiedervereinigung für die wichtigste Frage der deutschen Politik hielten. Viel wichtiger war ihnen, gut zu leben, starke Autos zu fahren und in aller Welt zu Hause zu sein. Nichts anderes wollten die Ostdeutschen, die jetzt so lautstark die D-Mark verlangten. Und das notfalls auf Kosten derer, die sie schon hatten. Was nichts anderes als teilen bedeutete. Aber würden die neunundneunzig Prozent der Westdeutschen, die in der Wiedervereinigung kein vorrangiges Ziel mehr sahen, so solidarisch sein? Es lebte sich in dem betuchten Teilstaat, in dem man sich eingerichtet hatte, ja recht behaglich. Was sollte man mit diesem anderen, kaputt gewirtschafteten Deutschland? Die Küsten des Mittelmeeres waren viel interessanter. Keine guten Voraussetzungen fürs Miteinanderauskommen, oder?
Hannah wusste auch darauf eine Antwort. »Ist ihr Wohlstand denn allein ihr Verdienst? War doch reines Glück, dass sie in Hamburg oder Bayern zur Welt gekommen sind anstatt in Stralsund oder Sachsen. Ob sie das hören wollen, das ist natürlich ’ne ganz andere Frage.«
»Und was, wenn das Fremdeln zwischen Ost und West sich durch diese unterschiedlichen Interessenlagen noch weiter vertieft?«
Eine Frage zu viel. Hannah blieb stehen, direkt unter einer Laterne, sah ihn einen Moment lang nur an und schüttelte den Kopf. »Hältst du mich für Madame Kassandra? Denkst du, ich kann in die Zukunft blicken? Bin mir nur sicher, dass diejenigen, die zusammenstreben, sich leicht ›vereinigen‹ lassen – wer lieber für sich geblieben wäre, wird sich schwertun. Warten wir’s ab, die Zeit wird’s zeigen.«
Da war es wieder, das schöne Wort vom »Wartesaal der Geschichte«! Das Verrückte war nur, sie saßen in diesem Wartesaal und wussten nicht einmal, welcher Zug kommen und wohin er fahren würde.
Langsam wanderten sie weiter, bis Lenz doch wieder eine Frage hatte. »Stell dir vor, was jetzt hier geschehen ist, wäre schon 1933 passiert. Gleich nach den ersten Verhaftungen! Das Volk wäre zusammengeströmt, hätte gerufen: ›Wir sind das Volk‹, und die Nazis hinweggefegt, noch bevor sie ihre Macht festigen konnten. Was, du kluge Hannah, wäre dann wohl aus Deutschland geworden?«
Sie dachte kurz nach, dann wurde sie doch zur Kassandra. »Auch kein Paradies! Für Paradiese eignen wir Menschen uns nun mal nicht.«
Tiefer im Osten kamen ihnen immer mehr
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