Auf der Sonnenseite - Roman
geht. Und das gilt erst recht, wenn man zwei kleine Kinder hat.«
Dem konnte Lenz nicht widersprechen. Wären sie geblieben, wäre Hannah, die im Westen unter so ganz anderen Bedingungen aufgewachsen war, sicher nie ihre Depressionen losgeworden. Und er, der verhinderte Schreiber? Er wäre wohl Stammkunde im Spirituosengeschäft geworden. Und unter solchen Eltern, das stand fest, hätten auch Silke und Micha gelitten.
Erneut blieben sie stehen, mitten zwischen all den anderen Heiligabend-Bummlern, die immer wieder ergriffen zur grünkupfernen, im Scheinwerferlicht leuchtenden Quadriga hochschauten, und Lenz versuchte, sich daran zu erinnern, wann er zuvor das letzte Mal durchs Brandenburger Tor spaziert war.
Als Kind und auch als Jugendlicher war er hin und wieder hier durchgelaufen. Aber nicht oft. Hinter dem Brandenburger Tor lag ja nur der Tiergarten, weit und breit keine Geschäfte oder Kinos wie am Gesundbrunnen oder rund ums Schlesische Tor. Der kleine Manni oder der schon größere Manne aber hatte garantiert nicht lange zur Quadriga hochgeschaut, den hatte kein Hauch Geschichte angeweht. Das war nun anders. Erst vor wenigen Tagen hatte er das Kapitel überarbeitet, in dem er Hitlers Fackelzug durchs Brandenburger Tor schilderte; Jahre zuvor, in seinem Roman über die Novemberrevolution 1918, hatte er die heimkehrenden Soldaten des Ersten Weltkrieges durch dieses Tor ziehen lassen. Noch früher hatte er geschildert, wie er als Zehnjähriger den 17. Juni 1953 miterlebte und OstBerliner Arbeiter an dieser Stelle nach WestBerlin hinübermarschierten. Ja, und auch über den 13. August 61, als Ulbrichts und Honeckers Betriebskampfgruppen das Tor abriegelten und dafür sorgten, dass es achtundzwanzig Jahre lang nur von fern besichtigt werden konnte, hatte er berichtet. – Und nun? Was erlebte es jetzt mit, dieses so geschichtsträchtige Bauwerk? Die Niederlage der einen, die den Sieg der anderen bedeutete?
Der vornehm-würdevoll gekleidete ältere Herr direkt neben ihnen, grauer Hut und weißer, akkurat gestutzter Gentleman-Schnurrbart, erinnerte sich ebenfalls an die Geschichte dieses Stadtdenkmals, sein Blick ging aber weiter zurück. Mit unüberhörbar stolzem Unterton in der Stimme schilderte er seiner ebenso dezent gekleideten, nicht sehr viel jüngeren Begleiterin, wie Napoleon I. die Quadriga einst raubte und der alte General Blücher, »unser Marschall Vorwärts«, sie während der Befreiungskriege nach Berlin zurückbrachte. »Gerade noch rechtzeitig, bevor unsere preußische Göttin akzentfrei ›Französisch‹ konnte.«
Sagte es, lachte neckisch und sah sich vorsichtig um, als wollte er herausfinden, ob auch andere seinen zweideutigen Scherz mitbekommen hatten.
Die Dame an seiner Seite, zartlila getönte Haare und einen Tick zu auffällig geschminkt, errötete, musste aber leise kichern. Und so schwadronierte der gut gelaunte Herr weiter. Wie dann später, während der deutschen Einigungskriege 1864, 66 und 70/71 die Triumphzüge durch dieses Tor geführt hatten. »Besonders der nach dem Deutsch-Französischen Krieg, meine Liebe, der hatte es in sich. Einen so glorreichen Sieg hatten wir ja nie zuvor und haben wir auch später nie wieder errungen, nicht wahr? Brütend heiß war es an diesem Tag und die Soldaten unter ihren Pickelhauben fielen reihenweise um, aber was war das für ein Jubel in der Stadt! Janz Berlin hat jetanzt!«
Er machte ein Gesicht, als bedauerte er, damals nicht dabei gewesen zu sein, und Hannah musste sich ein Lachen verkneifen. Lenz grinste nur. Sie wussten beide, was der jeweils andere dachte, blieben stehen und hörten weiter zu.
Mit einer weit ausholenden Armbewegung, so als gehöre das Brandenburger Tor ja eigentlich ihm, machte der Gentleman seine Begleiterin auf die mittlere Durchfahrt aufmerksam. »Ja, und da, da durfte in früheren Zeiten ganz allein der Kaiser durchfahren. Kein anderer! Janz strenge Regel! Hielten sich auch alle dran. Damals, ja, da hatte man noch Disziplin.«
Die Dame blickte andächtig, und nachdem ihr Begleiter einige Zeit geschwiegen hatte, um ihr Gelegenheit zu geben, seine Ausführungen gebührlich zu würdigen, näherte er sich in seinen Geschichtsbetrachtungen der Gegenwart. Eben jetzt, vor wenigen Minuten, so erklärte er in verschwörerischem Ton, habe er das erste Mal seit achtundzwanzig Jahren wieder OstBerliner Boden betreten. »Auch so ’ne kleine historische Denkwürdigkeit, nicht wahr? Bin ja gar nicht weit von hier aufgewachsen.
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