Haut aus Seide
»Beste Freunde«
Der Laden befand sich in der Rue du Faubourg St.-Ho noré , eingebettet – aber in keiner Weise eingezwängt – zwischen Givenchy und Hermès. Und wenn irgendein Rockschoß einen ganzen Rattenschwanz von Menschen nach sich zog, dann war es der von Meilleurs Amis. Seit ihrer Eröffnung hatte die Boutique für mehr Massenaufläufe und Begeisterungsstürme vor den Schaufenstern gesorgt als jedes andere Modehaus auf dem altehrwürdigen Pariser Boulevard.
Von den bogenförmigen Belle-Époque-Fenstern ging ein goldenes Strahlen, ja fast ein Duft aus. Gewürze und Blumen, das schimmernde Licht auf der Seine, warmes Brot und schmelzende Schokolade – all das gab einen Vorgeschmack auf den Charme des Geschäfts. Aber eben nur einen Vorgeschmack. Was wirklich hinter dem gebogenen Glas zu finden war, wusste man nie so genau. Das perfekte Samtkleid? Die perfekte Diamanthalskette? Ein perfektes Set aus antikem Kamm und Spiegel, um das Haar zu frisieren?
Sophie Clouet, die Gründerin von Meilleurs Amis , war keine Designerin, sondern Sammlerin. Menschen, die etwas davon verstanden, behaupteten, der Geschmack ihrer Tochter Evangeline sei sogar noch exquisiter. Doch leider zeigte die jüngste der Clouet-Töchter so gar kein Interesse für den Familienbetrieb. Wäre da nicht der
Witwer gewesen – der ach so bezaubernde Philip Carmichael -, die Boutique wäre vielleicht längst in die Hände von Fremden gelangt. Doch der Mann schien die Zügel fest in der Hand zu haben. Und in seiner Eigenschaft als Brite hatte er dem Umgang mit den Kunden etwas völlig Neues hinzugefügt: echte Freundlichkeit.
Die Besucher blickten jetzt nicht nur von außen in den Laden, sie betraten ihn auch. Die meisten von ihnen konnten sich allerdings nicht mal das kleinste der mit Perlen besetzten Täschchen leisten. Und diejenigen, die es konnten, brauchten es nicht. Doch wie sollte man widerstehen, wenn die Verkäuferin so hübsch lächelte, wenn sie die Schrammen auf den Schuhen und die mehr als unvorteilhaften Frisuren ihrer Kundschaft einfach übersah? Eine derartige Bereitschaft, die Unvollkommenheiten der Menschen zu vergeben, war in der Welt der Haute Couture wohl beispiellos. Und der Laden selbst? Nun, schon allein das Betreten der Boutique hatte eine beruhigende Wirkung auf Frauen. Manche blickten als Erstes zu der künstlerisch ausgestalteten Decke auf. Die Nächsten wunderten sich über den kostbaren Perserteppich, der unter ihren Füßen nachzugeben schien, und andere ließ die Hand über die große Auswahl an Dessous gleiten, die wie in jeder Meilleurs-Amis -Boutique an der hinteren Wand aufgereiht waren.
Am meisten jedoch blieben einem die Geschichten in Erinnerung, die man in diesem eleganten Schmuckkästchen so hörte. Geschichten über Sophies russische Adelsaffäre. Geschichten über einen berühmten Tänzer, der seine Giselle in der Garderobe gefickt und sie dabei so laut zum Schreien gebracht hatte, dass die Angestellten von Givenchy auf die Straße gerannt kamen. Und dann
waren da ja auch noch Evangelines Eskapaden: wilde Partys und ungezügelte Liebschaften, die schließlich zur Heirat mit einem Nachwuchs-Designer geführt hatten, der zwanzig Jahre jünger war als sie. Niemand wusste, was Philip tun würde – nachdem sie sich jetzt auf so dramatische Weise aus seinem Leben verabschiedet hatte.
Aber wie immer seine Pläne auch aussahen, der Laden blieb ein Aphrodisiakum. Schon das Label allein sorgte dafür, dass man sich schön fühlte. Meilleurs Amis , flüsterte es einem zu. Und auf den goldfarbenen Aufhängern der Kleidungsstücke standen die magischen Worte Paris, London, Rom, New York. Natürlich gab es auch noch andere Filialen . In Moskau, in New Orleans, in Tokio und in San Francisco. Es ging sogar das Gerücht, in Peking solle eine Dependance eröffnet werden. Doch diese Städte spielten eigentlich keine Rolle. Paris, London, Rom, New York - dieses Mantra allein vermittelte das internationale Ansehen der Boutique. Stil. Luxus. Sinnlichkeit. Macht.
Welche Frau, die etwas auf sich hielt, konnte da schon widerstehen?
Paris
Eins
Béatrix Clouet hielt vor der Tür zum Büro ihrer Mutter kurz inne. Sie spürte einen schmerzhaften Druck auf der Brust. Der Mann hinter dem Rosenholzschreibtisch war von einer geradezu unwirklichen Schönheit. Selbst »Der Kuss« von Rodin hätte in seiner Gegenwart flach und farblos gewirkt. Wie auch der Pariser Frühling, der üppig, aber dennoch auf kultivierte Weise die
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