Auf der Sonnenseite - Roman
Regen, endlich aufgegeben und ausgesagt.
Er hatte ja auch gar nichts verschweigen, im Gegenteil, er hatte »auspacken«, sich seinen ganzen DDR-Frust von der Seele reden wollen. Wie naiv von ihm, dass er geglaubt hatte, dass ihm in seiner Situation ganz selbstverständlich ein Rechtsanwalt zustand. Eindeutig ein Zeichen dafür, dass er seinen Staat noch immer viel zu positiv eingeschätzt hatte. Hätte er bis dahin nicht gewusst, weshalb er wegwollte, diese Erfahrung hätte es ihn gelehrt.
Wieder der Blick zur Wand. Wenn keine Sonne war, hatte er die Uhrzeit nach den Geräuschen bestimmen müssen, die vom Flur aus zu ihm hereindrangen – die schmatzenden Gummiräder des kleinen Wagens, mit dem morgens, mittags und abends das Essen über den Linoleumfußboden gekarrt wurde; die mal munteren, mal schleppenden Schritte des Wachpostens, der von Zelle zu Zelle schlenderte, um die Häftlinge durch den Spion zu beobachten; das eilige Schrittgetrappel, wenn Häftlinge zur Freistunde oder Vernehmung geführt und wieder zurückgebracht wurden …
Nächste Einstellung: Der Kameramann nahm den kleinen, plastikbezogenen Tisch mit dem Hocker auf. Abgesehen von der Holzpritsche, das einzige Mobiliar in diesem Raum. Gelegenheit für Lenz, zur schräg offen stehenden, grauen Zellentür hinzublicken. – Wie oft hatte er seinen Kopf an dieses Grau gelegt! Immer in der vergeblichen Hoffnung, irgendein Geräusch aus den anderen Zellen mitzubekommen.
Die Tür starrte zurück, feindlich und durch keinerlei politische Umwälzungen irritiert, und der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, was sein würde, wenn eben jetzt, in diesem Augenblick, jemand die Tür von außen zuwarf und verriegelte …
Er atmete schwerer und schüttelte über sich den Kopf. Was sollte diese Spinnerei? Er war nicht das erste Mal hier zu Besuch. Kaum war der ehemalige Stasi-Knast zur Besichtigung freigegeben, da waren Hannah und er schon durch alle Räume gewandert, hatten ihre ehemaligen Zellen besichtigt und lange in dem schmalen Zimmerchen gesessen, in dem sie so viele Tage lang verhört worden waren. Später waren sie mit Silke hergekommen, mit Micha, mit Fränze. Der erste Besuch war ein sehr bedrückendes, aber auch befreiendes Erlebnis gewesen. Endlich hatten sie diese Zwingburg mal von außen gesehen. Als man sie hier einlieferte, wussten sie ja nicht mal, in welchem Bezirk Berlins sie sich befanden; wie in einem sehr unwirklichen Albtraum waren sie durch die totenstillen, mit Ampelanlagen versehenen Gefängnisflure geführt worden. Jetzt waren sie schon mehrfach durch all diese Räume, Flure und Zellen und einmal auch rundherum um diesen tristen, grauen Komplex von Häusern und Garagen gewandert und hatten auch die umliegenden Straßen abgeklappert. Alles, damit jene Unwirklichkeit endlich reale Züge bekam. Seither wirkte dieser Bau sehr viel weniger geheimnisvoll und bedrückend auf sie; er kam ihnen auf eine frustrierende Weise sogar banal vor.
Heute war das anders. Während aller vorherigen Besuche hatte er »seine« Zelle stets nur sehr kurz betreten, ein Wiedererleben hatte nicht stattfinden können. Jetzt steckte er schon einen halben Tag in diesem beigefarbenen Loch. Alles war wieder da, alles war wieder nah.
Nicht so leicht zufriedenzustellen, dieses Fernsehteam. Kaum etwas, das die drei Männer, die ihre Aufnahmegeräte hier hereingeschleppt hatten, von Lenz nicht vorgeführt bekommen wollten: Wie er damals voller Unruhe auf und ab gewandert war! Wie er auf seinem Hocker saß und die Glasziegelsteine anstarrte! Wie er den Rücken an die Wand lehnte, müde vom Sitzen, müde vom Laufen, müde vom Denken. Er kam ihnen entgegen, hielt es für wichtig, dass über jene Zeit berichtet wurde, spielte mit. Doch zog das Ganze sich sehr in die Länge, er musste viel Geduld aufbringen.
»Jetzt bitte eine Großaufnahme: Lenz starrt die Glasziegelsteine an. Vor allem die Augen müssen gut kommen. Oder spiegelt Ihre Brille?«
Der junge, so modern gekleidete Redakteur mit dem akkurat gescheitelten, langen Haar, der sich immer wieder auf die geschlossene Klobrille setzte, um sich von dem, was ihn umgab, inspirieren zu lassen, sprang auf, um Lenz’ Brille in Augenschein zu nehmen.
»Keine Sorge!«, beruhigte ihn Lenz. »Die Brille ist entspiegelt.« Er wurde ja öfter mal fotografiert; eine entspiegelte Brille gehörte sozusagen zum Handwerkszeug eines Schriftstellers.
Erneut rückte der Kameramann nah an ihn heran, und der noch sehr junge Mann im gelben
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