Auf der Sonnenseite - Roman
und später die Verhaftung, die Verhöre und das Gerichtsverfahren, nichts hatte ihrer Liebe etwas anhaben können. Über die Versuche der Stasi, sie mit erfundenen Seitensprüngen seinerseits und ihrerseits auseinanderzubringen, hatten sie nur gelacht. Und auch jetzt, da sie, die jung geheiratet hatten, schon seit über zehn Jahren zusammenlebten, war Lenz noch immer in seine große, schlanke, dunkelhaarige Hannah verliebt. Doch sah es nun immer öfter so aus, als wäre sein Hannah-Märchen bald beendet. Hannahs Liebe zu ihm, so empfand er es, hatte Risse bekommen. Und trug daran nicht er selbst die Schuld?
Er fand sich fehl am Platz in diesem kleinen hessischen Kaff. Er hatte auf eine weite, lichte, offene Welt gehofft; hier war alles eng, dumpf und albern. In der DDR konnte nur halbwegs unbehelligt leben, wer jede spontane Lebendigkeit, Offenheit und Ehrlichkeit, vor allem aber jede Kritikfähigkeit dem öden und einengenden, aber dafür relativ bequemen Leben eines Untertanen opferte; hier passte man sich an, indem man sich freier, größer, schöner und stärker gab, als man war. Ihm lag das eine so wenig wie das andere.
Konnte aber dieser zweifelnde, unglückliche, fremdelnde Lenz noch Hannahs Manne sein? Und konnte sie, solange Micha und Silke nicht wieder bei ihnen waren und sie eine Arbeit gefunden hatte, die sie einigermaßen zufriedenstellte, wieder jene Hannah werden, die so ganz selbstverständlich zu ihm gehörte? In Lenz verstärkte sich immer mehr das Gefühl, dass die Zeit ihrer Prüfungen noch längst nicht beendet war. Die Entlassung aus der Haft, was war sie anderes als nur die Zulassung zur eigentlichen Prüfung? Eine Prüfung, von der sie noch nicht wussten, ob sie sie bestehen würden.
Außerdem: Waren sie denn wirklich schon »entlassen«?
Nicht in ihren Träumen. Mal war es Lenz, der nachts auffuhr, weil er wieder in einer sehr unwirklichen Stasi-Haftanstalt festgehalten worden war und sich ihm keinerlei Aussicht auf baldige Entlassung bot, mal war es Hannah. Dann starrte, wer aufgeschreckt war, mit weit offenen Augen zur Zimmerdecke hoch und spürte sein Herz schlagen, als wollte es den zu eng gewordenen Brustkasten sprengen. Um sie einzuschüchtern, hatte ihr Vernehmer anfangs von fünf, zehn und noch mehr Jahren Haft gesprochen, und natürlich hatten sie, obwohl sie dahinter eine Absicht erkannten, entsprechende Ängste ausgestanden; Ängste, die ihnen noch immer keine Ruhe gönnten.
Die noch so wenig verarbeitete Vergangenheit, die beunruhigende Gegenwart und die unsichere Zukunft, alles setzte ihnen zu. Hilflos, wie sie waren, machten sie einander Vorwürfe. Er erschien Hannah schwach und zögerlich – ein Nichtschwimmer im Haifischbecken der kapitalistischen Welt –, sie erschien ihm überängstlich, wankelmütig und schuldzuweisend.
Dennoch warb er um sie. Sie gehörten doch zusammen; sie legten nur gerade eine schwierige Strecke ihres gemeinsamen Weges zurück. Wenn erst die Kinder gekommen waren, würde alles wieder gut werden.
3. Lehrgeld
W arum waren sie damals nicht weggezogen aus jenem kleinen Taunusort? In eine Großstadt, die mehr Ablenkung bot. Warum nicht gleich wieder nach Berlin zurück, in den Westteil der Stadt, der ja auch Lenz’ Heimat war?
Es hatte mit Fränze zu tun. Es wäre Hannah undankbar erschienen, so schnell das Weite zu suchen. Fränze hatte viel für sie geopfert, war ihretwegen in Bulgarien wochenlang in Haft und nur auf Bewährung und gegen Zahlung einer größeren Geldstrafe freigekommen. Auch hatte sie, um an die Pässe zu gelangen, die ihnen ihre Flucht ermöglichen sollten, viel Geld auf den Tisch legen müssen. Ein schnelles Wegziehen, was wäre das anderes als eine erneute Flucht gewesen? So hatte Hannah, wenn schon nicht ihre Kinder, doch wenigstens ihre Schwester in der Nähe. Sie mussten ja nicht ewig aufeinanderglucken.
Mit dem Einzug in eine eigene Mietwohnung im Nachbarort sollte alles besser werden. – Ein Trugschluss! Die neue Welt stellte ihnen Fallen und lachte sie obendrein noch aus.
Hedwig und Ernst Schönmüller, heimatvertriebenen Schlesiern, die sich ihr kleines Vermögen anfangs erschuftet, später erwirtschaftet hatten, gehörte das dreistöckige Haus, in dem Hannah und Manfred Lenz – auf gewisse Weise ja ebenfalls Heimatvertriebene – hofften, ihr neues Glück zu finden. Zwar lag der Neubau direkt an der viel befahrenen Bundesstraße 8, der Blick nach hinten hinaus aber reichte fast bis zum Horizont. Nichts als Gelb
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