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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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im täglichen Zusammenleben wurden tief klaffende Unterschiede sichtbar. Fränze war die selbstbewusste, emanzipierte junge Frau von der Universität, ohne Kind und Kegel, mit wechselnden Partnern an ihrer Seite, Hannah die ebenfalls nicht untüchtige, berufserfahrene Frau und Mutter, für die ein solch ungebundenes Leben nicht infrage kam.
    Lenz und sie, wie hatten sie sich jedes Mal gefreut, wenn Fränze in OstBerlin auftauchte! Wie hatten sie es genossen, mit ihr zusammenzusitzen und über Gott und die Welt zu diskutieren oder gemeinsam Ausflüge zu unternehmen. Die Stadtindianerin Fränze, groß, blond, Igelschnitt, Mitte dreißig, wie ein weiblicher Winnetou war sie ihnen vorgekommen. Sie zeigte keinerlei Respekt vor irgendwelchen Behörden, Würdenträgern oder Geldsäcken; ihr so ganz anderes Leben hatte ihnen sehr imponiert. Jetzt, im täglichen Beisammensein, war nicht zu übersehen, dass ein solches Leben auch seine fragwürdigen Seiten hatte. Da wurden zu viele große Worte gemacht, die nicht lange galten; da wurde die Welt als ein einziger großer Selbstbedienungsladen angesehen. Selbstverwirklichung war alles, egal auf wessen Kosten.
    Sie waren Fränze nach wie vor dankbar, sie half ihnen, wo sie konnte; ihre Wohnung war auch ihre Wohnung, ihr Einkommen ernährte sie. Doch war Fränzes Welt nicht ihre Welt. Lenz und Hannah begriffen es bald: Sie mussten endlich in ihr eigenes Leben finden. Doch wie sollte das gelingen, ohne Arbeit und eigenes Einkommen und solange die Kinder noch so weit von ihnen entfernt lebten?
    Probleme und Sorgen übergenug. Und dann gab es da auch noch Hannahs Vater. Dreizehn Jahre zuvor war H. H. M., wie Hans Henning Möller sich gern selber nannte, mit der sechzehnjährigen Hannah den Weg von West nach Ost gegangen. Besser: Er hatte ihn gehen müssen. Der Stadtbezirksbaudirektor der Stadt Frankfurt am Main war in eine Korruptionsaffäre verwickelt; die Flucht in den Ostteil Berlins, in dem er zwischen den beiden Weltkriegen aufgewachsen war, bewahrte ihn vor der sicheren Gefängnisstrafe. Später war er, inzwischen Rentner, mit Hannahs Stiefmutter zur Beerdigung seines Sohnes Jo wieder in die Bundesrepublik eingereist. Die Straftat war verjährt, niemand zog ihn noch zur Verantwortung. So nutzte er den traurigen Anlass, um gleich ganz im Westen zu bleiben, obwohl er Hannah, die ihn einst in die DDR begleitete, hoch und heilig geschworen hatte, zurückzukehren. – Ein Schwur, der nicht ernst gemeint war. Gleich in seinem ersten »Westbrief« machte er der Tochter klar, dass es ihm in der Bundesrepublik besser gehe – höhere Rente, größere Wohnung, schönere Reisen –, sie aber, die von den DDR-Behörden keine Genehmigung erhalten hatte, zur Beerdigung ihres Bruders zu fahren, da sie ja noch berufstätig und zudem im Außenhandel beschäftigt war, solle nicht verzagen. Es ginge ihr und ihrem Mann doch gut, und auch im Westen sei nicht alles Gold, was glänze.
    Kein Wort, dass er Tochter, Schwiegersohn und Enkelkinder nun höchstwahrscheinlich niemals mehr wiedersehen würde!
    Ein Schlag tief unter die Gürtellinie! Hannah hatte lange gebraucht, um damit fertig zu werden. Und jetzt, nach all dem, was sie inzwischen erlebt hatte – darunter monatelange gemeinsame Haft mit Kinds- und Gattenmörderinnen, die die politischen Häftlinge auf radikalste Weise unterdrückten –, zögerte ihr Vater, sie zu besuchen. Wollte sich drücken. Aus schlechtem Gewissen. Diese Feigheit schmerzte noch mehr als der Verrat.
    Am Ende aber traf man sich doch. Fränze, zu Vater und Stiefmutter ebenfalls nicht im besten Verhältnis stehend, bereitete alles vor und dann saß man sich gegenüber, und der grauhaarige, schlanke, schlagfertige H. H. M. spielte mal wieder den Jovialen, menschlich Großzügigen, mit dem doch jeder auskommen musste. Ansonsten: Keine einzige Frage, wie es seiner Tochter in dem zurückliegenden Jahr ergangen war; die Erkundigung nach den Enkelkindern reine Pflichtaufgabe.
    Was für Lasten schleppte Hannah in jener Zeit mit sich herum! Oft war ihr, als lebte sie in einem zwar luxuriösen, aber sehr düsteren Kellerverlies, dessen Wände immer näher auf sie zurückten. Sie begann, alles um sich herum infrage zu stellen. Auch Lenz. Und das in einer Zeit, in der er selbst an sich zweifelte.
    Hinter Hannah und Manfred Lenz lag eine große, zu Beginn fast märchenhafte Liebesgeschichte. Es hatten mehrere Wunder geschehen müssen, damit sie einander fanden. Der Alltag in der DDR

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