Auf der Sonnenseite - Roman
auch ihr Selbstwertgefühl – in den Jahren zuvor durch verantwortungsvolle Tätigkeiten geprägt – lag darnieder.
Ein Erlebnis traf sie besonders tief: Auf ihrer Suche nach Arbeit hatte sie eine Annonce aufgegeben. Ein Anruf kam, jemand gab sich als Chef einer großen Möbelfirma aus, befragte sie nach Kenntnissen und früheren Arbeitsverhältnissen und lud sie für den nächsten Tag zu einer festgesetzten Uhrzeit zum Vorstellungsgespräch ein. In hoffnungsvoller Stimmung warf sie sich in ihr bestes Kleid – so viele neue Kleider hatte sie ja noch nicht – und machte sich auf den Weg. Doch in der Möbelfirma erntete sie nichts als belustigte Blicke. Niemand wusste etwas von einem Vorstellungsgespräch, niemand kannte den Namen des Herrn, der Hannah angerufen hatte. Es wurde auch gar keine kaufmännische Mitarbeiterin benötigt. Sie spürte den unausgesprochenen Verdacht, sie wolle sich auf besonders dummdreiste Weise einen Job verschaffen, und wusste vor Verlegenheit nicht, was sie sagen sollte. Auf dem Rückweg malte sie sich aus, wie der Anrufer sie aus einem Auto oder einer Häusernische heraus beobachtete und seinen Spaß an der »Osttrulle« hatte, die auf seinen Anruf hereingefallen war, und war den Tränen nah.
Lenz hatte sofort einen Verdacht: Der ehemalige Feldwebel der Bundeswehr könnte der Scherzkeks gewesen sein, jener auf den Partys so gern Rad schlagende Versicherungsvertreter, der seine beste Zeit bereits hinter sich hatte, Haustüren abklappern musste und sich vom Schicksal bestraft fühlte. Seine Stimme, so meinte Hannah, könnte es gewesen sein. Doch was nutzte ihnen diese Mutmaßung? Selbst wenn sie jenem »armen Menschen« irgendetwas hätten beweisen können – wozu? Es war das Beste, über den Vorfall zu schweigen. Obwohl dieses Auf-die-Lippen-Beißen für Lenz eine Selbstkasteiung bedeutete. So weit abseits jeder großen Stadt gab es für Hannah ja kaum eine Möglichkeit, Arbeit zu finden, und die Möbelfirma fiel nun auch weg.
Er hatte geglaubt, er, der im Osten Geborene und Aufgewachsene, sei es, dem es besonders schwerfallen würde, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen. Nun sah er, dass der Wechsel Hannah viel härter traf. Als junges Mädchen war sie hier fortgegangen; was sie in Erinnerung gehabt hatte, gab es nicht mehr. Dafür anderes, für sie inzwischen Unverständliches. In der DDR hatte sie sich in gewisser Weise gleichberechtigt gefühlt, hier hieß es »Manfred Lenz und Frau«. Nirgendwo musste sie selbst unterschreiben, nicht einmal bei der Beantragung ihres Personalausweises; es genügte, wenn er für sie zeichnete. Einzige Ausnahme: der Ratenkredit! Da war sie plötzlich doch eine eigene juristische Person – um für ihren Mann die Schulden abzuzahlen, falls der aus irgendwelchen Gründen zahlungsunfähig geworden sein sollte.
Der Höhepunkt: Wollte eine Frau eine Arbeit aufnehmen, benötigte sie dafür die Zustimmung ihres Ehemannes. Erhob er Einspruch, galt der Einstellungsvertrag nicht. Zwar richtete sich niemand mehr danach, das Gesetz aber existierte noch und hätte im Fall der Fälle zur Anwendung gebracht werden können.
»Das ist Mittelalter«, schimpfte sie, »das degradiert uns zu Haustieren.«
In der Haft hatten die Frauen oft darüber gesprochen, was sie in ihrem bisherigen Leben alles versäumt hatten. Das wollten sie im Westen nachholen. Einen großen Hut wollten sie sich kaufen und damit im Sonnenschein auf dem Kurfürstendamm Kaffee trinken und lange, braune Damenzigaretten rauchen. – Nichts als Spinnereien, um sich über den Gefängnisalltag hinwegzutrösten? Nein, es steckte mehr dahinter; der Wunsch nach einem Frausein, wie es zuvor vor lauter Arbeit und Kinderbetreuung nicht möglich gewesen war; ein Wunsch, über den Hannah inzwischen nur noch lachen konnte, da er von ganz anderen, viel drängenderen Wünschen abgelöst worden war. Eines aber hatte immer festgestanden: Niemals, nicht einmal im Traum, hatte sie daran gedacht, ihr zukünftiges Leben nicht selbstbestimmt, sondern allein als Anhängsel ihres Mannes zu verbringen. In jenem Taunusort, in dem sie nun lebten, gingen jedoch die meisten Frauen nur arbeiten, wenn es finanziell unerlässlich war; eine selbstständige Persönlichkeit zu sein, schien ihnen nicht erstrebenswert. Für Hannah eine Zurücksetzung, gegen die sie sich wehrte.
Hinzu kam, dass auch das Verhältnis zu Fränze nicht mehr stimmte. So gut die Schwestern sich verstanden hatten, wenn Fränze sie in OstBerlin besuchte,
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