Auf der Sonnenseite - Roman
Hintergrund ein ganz besonderer, nicht wiederholbarer Genuss.
»Fast könnte man neidisch werden.« Hannah seufzte schmunzelnd.
Ja, dachte Lenz, als Hannah und er so alt waren wie diese beiden, konnten sie sich nicht so unbeschwert ihrer Liebe erfreuen. Sie hatten sich im Frühjahr 1962 kennengelernt, ein halbes Jahr nach dem Mauerbau und nur wenige Monate vor der Kuba-Krise. Damals, in jenem Oktober, als sie schon wussten, dass ihre Liebe nicht nur so eine rasch vorübergehende Verliebtheit sein würde, hatten sie Abend für Abend den Rundfunknachrichten gelauscht. Nie zuvor und nie wieder danach war die Welt einem Dritten Weltkrieg so nahe. Vierzehn sowjetische Schiffe, beladen mit Mittelstreckenraketen und Sprengköpfen, waren unterwegs, um die Anzahl der bereits auf Kuba stationierten Raketen noch weiter zu erhöhen. Die USA, gegen die sich diese Waffenansammlung richtete, mussten reagieren und verhängten eine Seeblockade. Auch verlangte Präsident Kennedy den Rücktransport der bereits gelieferten Waffen und den Abbau aller bereits vorhandenen Abschussrampen; Forderungen, auf die der sowjetische Parteichef Chruschtschow nicht eingehen wollte. Stur und nicht zu Unrecht verwies er auf die in der Türkei und in Italien stationierten amerikanischen Atomraketen, die sein Land bedrohten, und ließ die sowjetischen Schiffe weiter Kurs auf Kuba halten. Fast eine ganze Woche lang.
Die Welt hielt den Atem an. Eine in diesem Fall wörtlich zu nehmende Floskel. Wurde da nur hoch gepokert – oder stand tatsächlich ein Dritter Weltkrieg bevor? Würde schon in wenigen Tagen der Erdball in Flammen aufgehen?
Später kam heraus, dass diese Furcht nicht unbegründet war. Amerikanische Militärs hatten Präsident Kennedy zu einem vernichtenden, präventiven Luftangriff geraten. Einer von ihnen hatte das kommunistische Kuba sogar in die Steinzeit zurückbomben wollen. Zum Glück widersetzte Kennedy sich den Vorschlägen dieser offensichtlich tollwütig gewordenen Generäle.
Es kam der Morgen des 24. Oktober. An diesem Tag sollten die Raketenfrachter auf die Blockadeflotte stoßen. Kam es zum Krieg, so hatten Experten errechnet, würden wenige Minuten nach dem Start der russischen Atomraketen achtzig Millionen Amerikaner elendig umkommen. Wie viel Russen dem Gegenschlag zum Opfer fallen würden und wie viele Menschen anderer Völker, das hatten sie nicht errechnet. Oder vorsichtshalber lieber nicht mitgeteilt. Doch die Welt durfte aufatmen, die sowjetischen Schiffe drehten ab und kehrten in ihre Heimat zurück; und die Amerikaner zogen ihre Raketen aus Italien und der Türkei zurück.
1953 in Berlin, 1956 in Ungarn, 961 in Berlin und 1968 in Prag, immer wieder hatte es solche Krisenherde gegeben. An allen waren sie, Hannah und Manfred Lenz, und der Rest der Menschheit glücklich vorbeigeschlittert; der Kalte Krieg war kalt geblieben. Aber nun? Was kam jetzt? Alles sah nach weltweiter Entspannung und Abrüstung aus. Doch war wirklich jede Gefahr gebannt? Musste das junge, so herausfordernd glückliche Paar, das nun wieder um die Säulen herumtanzte, sich vor nichts und niemandem mehr fürchten?
7. Himmelsrichtungen
D er Pariser Platz! Die Steinquader, die so viele Jahre lang vom Osten aus den Zugang zum Brandenburger Tor versperrt hatten, waren bereits fortgeräumt. Doch Lenz erinnerte sich noch gut daran, wo sie standen, als er, Abschied nehmend, Silke und Micha ein letztes Mal vor dem Tor fotografiert hatte – vor nun schon über siebzehn Jahren! Sie hatten ja nicht gewusst, ob sie jemals wieder Unter den Linden spazieren gehen würden. Inzwischen hatten sie das schon oft getan, waren aber jedes Mal vom S-Bahnhof Friedrichstraße aus gekommen – aus östlicher Richtung. Jetzt hatten sie sich dem Tor vom Westen her genähert. Das hatte eine ganz andere Bedeutung.
Wieder die Frage: Hätten sie dableiben sollen damals, ausharren, warten?
Hannah meinte nein. Bleiben hätte opfern bedeutet, ein über siebzehn Jahre währendes, sehr schmerzhaftes, ihr Leben und damit auch das der Kinder zerstörendes Opfer. Zu ihrer Zeit sei eine solch sanfte Revolution ja nicht möglich gewesen. Wer hätte denn damals mitgemacht? Und was, außer langjährigen Freiheitsstrafen für alle »Helden«, wäre dabei herausgekommen?
»Es ist nun mal so«, sagte sie. »Zu unserer Zeit fehlten alle Bedingungen für einen Sieg der Mutigen – vor allem der Mann im Kreml. Und den ›Märtyrer‹ spielen, das darf man nur, wenn es um Leben oder Tod
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