Auf der Sonnenseite - Roman
»Held unter den Helden der Nation«, Nicolae Ceausescu, erst im Monat zuvor hatte er sich wiederwählen lassen und von einem Sieg des Sozialismus in seinem Land getönt, nun stand er kurz vor seinem schlimmen Ende. Auch ein Bürgerkrieg, der Tausende von Toten gekostet hatte und ihn und seine nicht weniger furchtbare Frau Elena vor der Volkswut retten sollte, hatte dieses Ende nicht aufhalten können. Schon tags darauf – am ersten Weihnachtsfeiertag – sollte das verbrecherische Diktatorenehepaar vor ein rumänisches Militärgericht gestellt und erschossen werden.
Nein, kein Unrecht war von Dauer, und es war kein Verbrechen, diesen Niedergang von Diktaturen nicht zu beweinen. Doch war auch nicht die Zeit für billige Triumphe. Die ganze, auf den ersten Blick so logische und einfache marxistische Theorie, die in ihrer Kritik am Kapitalismus so oft recht behalten, in der realsozialistischen Praxis aber kläglich versagt hatte, was war sie denn anderes als eine von mehreren möglichen Antworten auf die Frage, die der Kapitalismus einst gestellt hatte und noch immer stellte? Sie war nicht die richtige Antwort gewesen, wie die Menschen in den sozialistischen Ländern auf so schmerzhafte Weise erfahren mussten, doch was kam jetzt? War es wie so oft: Zerschlägst du ein ideologisches Weltbild, bläht sich das andere erst recht auf? Würde der Kapitalismus – von seinen Anhängern inzwischen freie Marktwirtschaft genannt – sich nun, ohne noch von konkurrenzfähigen Gesellschaftssystemen infrage gestellt zu werden, nicht in rasendem, alle ihm aufgezwungenen sozialen Errungenschaften beiseitefegendem Tempo in seine menschenverachtende Frühzeit zurückentwickeln?
Er jedenfalls, Manfred Lenz, befürchtete das Schlimmste. Hannah sah ihm das an und aufmunternd hängte sie sich bei ihm ein. »Na ja, was werden wird, wer kann das wissen? Eines aber, darauf würde ich jede Wette eingehen, ist schon jetzt sicher: Dieses Jahr 89 werden wir nie vergessen! Noch in Generationen wird darüber berichtet werden. Und so mancher, der gerade erst laufen lernt, wird später stolz verkünden: Und denkt nur, Opa war auch dabei!«
Seine Hannah! Wie recht sie mal wieder hatte! Wie viele solcher Zeitenwenden erlebt man denn schon in einem Leben? Als er, Lenz, sechs Jahre alt war, war sie gegründet worden, jene DDR, die die Grenzöffnung wohl nicht überleben würde. Er sah sie noch vor sich, all die bunten Plakate, die die Staatsgründung verkündeten, und hatte sie noch im Ohr, die hämischen Kommentare der Erwachsenen: »Na, lange wird’s den wohl nicht geben, diesen Staat der Möchtegerne. Denen fehlen die Leute, die was vom Regieren verstehen. In zwei, drei Jahren ist der Spuk vorüber.«
Was für ein Irrtum! Der »Spuk« feierte den fünften, den zehnten, den zwanzigsten, den vierzigsten Jahrestag seines Bestehens; wer ihn nicht ertragen wollte, musste fortgehen. Drei Millionen Fluchten und viele Hunderttausend legale Ausreisen – die allermeisten davon allerdings erst in den letzten zwei, drei Jahren – waren die Folge. Eine Bankrotterklärung ohnegleichen, und trotzdem: Selten hatte ein von der Mehrheit des Volkes abgelehnter Staat länger überlebt.
»Schau mal dort! Die ›freie Marktwirtschaft‹ lässt grüßen.«
Hannah lachte.
Eine westliche Firma hatte einen riesigen Tannenbaum gestiftet. Die elektrischen Kerzen schienen heller zu strahlen als üblich.
Ja, ein schöner Anblick, dieser Werbegag zwischen Tiergarten und dem mit Scheinwerfern hell angestrahlten Brandenburger Tor. Doch was für ein Omen! Stand er also im wahrsten Sinne des Wortes schon vor dem Tor, der real existierende Kapitalismus, klopfte gar schon an? Und war für die Leute im Osten kein Schreckgespenst mehr?
Der Mensch habe die Erde den nachfolgenden Generationen »verbessert zu hinterlassen«, hatte Karl Marx geschrieben. Die Genossen Zaunkönige mussten das überlesen haben. Die Städte verfallen und verödet, die Verkehrswege dem Verfall preisgegeben, ein Großteil der Landschaften zerstört, Gift in den Flüssen. Kurz: die verseuchteste Industrielandschaft Mitteleuropas! Die von Honecker & Co. so gern im Munde geführte »zehntstärkste Wirtschaftsnation der Welt«, nichts als ein billiger Propagandabluff. Wenn aber der Kapitalismus im Osten Einzug hielt, wie sollte dieses kaputte Land, wie diese marode Wirtschaft mit all ihren verrotteten Fabrikhallen und der veralteten Technologie diesen Wandel überleben?
In einer Zeitschrift waren mal zwei
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