Britannien-Zyklus 04 - Die Herrin der Insel
PROLOG
Die Erde ist unser aller Mutter, und die Gebeine der Erde sind aus Stein gemacht. Stein ist das Fundament der Welt.
Aus Feuer geboren, drängt der Stein himmelwärts, nimmt Tausende Gestalten an. Abkühlend und sich vereinigend erduldet er die Abnützung durch das Wasser, das Feilen durch den Wind, verwandelt sich in Erdreich, aus dem Lebendiges erwachsen kann. Die Welt erbebt, begräbt das Erdreich, und Druck verdichtet es abermals zu Fels. Im Laufe unzähliger Zeitalter wiederholt sich der Kreislauf und verewigt die Knochen von Pflanzen und Tieren in Stein. Die Lebensdauer ihrer Geschöpfe gleicht bloßen Lidschlägen im Lebensalter der Erde selbst, doch der Stein bewahrt die Erinnerung an sie.
In Stein geschrieben ist die Geschichte der Menschheit. Die ersten Primaten, die sich als Menschen erkennen, fertigen aus Stein Werkzeuge, die Zeugnis von ihrem Wesen ablegen. Zeit verstreicht, und das Eis kommt und geht. Mit Werkzeugen aus Stein fällen Menschen Bäume und bauen daraus Häuser; sie betreiben Ackerbau und bilden Gemeinschaften. In gemeinsamer Arbeit schleifen sie riesige Felsblöcke über das Land, errichten Menhire, Grabhügel und gewaltige Monumente, um den Verlauf der Gestirne aufzuzeichnen, und meißeln sie mit den spiralförmigen Mustern der Macht ein.
Mit Grenzsteinen markieren die Sippen ihre Gebiete, doch in der Mitte jedes Landes befindet sich der Omphalos, der Nabelstein, das geheiligte Zentrum ihrer Welt. Wenn der auserkorene König den Fuß darauf setzt, singt der Stein in siegreicher Bestätigung für jene, die Ohren haben, es zu hören.
Doch Könige sterben, Sippen vergehen, und ein Volk macht den Weg frei für das nächste im Land. Die Erschaffer der Steinmonumente scheiden dahin, und nur die Steine erinnern an sie. Weise Druiden nehmen sie in ihre eigenen Geheimnisse mit auf. Die Legionen des Adlers überziehen das Land mit pfeilgeraden Steinpfaden, und um die Königssteine wuchert Gras. Aber die Erde dreht sich weiter, und nach einiger Zeit sind auch die Römer verschwunden.
Stein jedoch überdauert.
Die Gebeine der Erde erhalten die Welt. In den Steinen der Erde lebt alles, was gewesen ist, als Erinnerung weiter.
I
Die Erbschaft
A.D. 502
Hier befanden sich die Gebeine der Erde dicht an der Oberfläche.
Artor brachte das Pferd zum Stehen, das er am Zügel führte, und sah sich um. Er erblickte grauen, von Stürmen abgeschliffenen Stein, hier und da von dünnen Grasschichten überzogen, wo in vereinzelten Erdreichflicken Samen aufgegangen war. So rau die Berge auch waren, die einst der Stamm der Silures durchstreifte, sie besaßen ihre eigene, unbeugsame Schönheit. Doch sie kannten keine Gnade für jene Wesen, die ihre Geheimnisse zu erkunden wagten. Hirten folgten ihren Schafen über jene Hügel, doch selbst sie kamen selten so hoch herauf.
Das schwarze Ross, dem das Gras zu kurz und karg war, um zu fressen, stupste Artor behutsam an, und der Hochkönig trat einen Schritt vor. Im klaren Licht schimmerte Corvus’ Fell wie das Gefieder des Raben, dem er seinen Namen verdankte. Der Hengst hatte am späten Vormittag zu lahmen begonnen. Der Hirsch, dessen Fährte sie zuvor gefolgt waren, war längst verschwunden, und der Rest der Jäger war hinter ihm her. Der Pfad, auf dem Artor sich nunmehr befand, war der kürzeste Weg nach Hause, obwohl er sich zum Hügelrücken emporwand, ehe er hinab ins Tal führte.
Ein Stein gab unter seinem Fuß nach; unwillkürlich verkrampfte er sich ob der Erinnerung an einstigen Schmerz. Doch seine durch die Ertüchtigung warmen Muskeln spannten sich und hielten der Belastung stand, ohne dass er einen stechenden Schmerz empfand. Tatsächlich war er mit zweiundvierzig Jahren gesund und kräftig wie nie zuvor. Und Britannien lag im Frieden nach unzähligen Jahren des Krieges.
Es erschien ihm immer noch merkwürdig, einem Jahr ohne Feldzug entgegenzublicken. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen – vielleicht öffentliche Arbeiten –, wofür seine Häuptlinge ihre Kraft einsetzen konnten, damit sie nicht anfingen, sich untereinander zu bekämpfen. In Artor war sogar die Hoffnung gekeimt, er könnte die Kraft in sich finden, Gwendivar ein wahrer Gemahl zu werden.
Er hatte sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, sich frei bewegen zu können – drei Jahre lang hatte ihm die Wunde Schmerzen bereitet, die Melguas’ Speer damals seiner Lendengegend zugefügt hatte, und die Nacht, in welcher der Kessel von unsichtbaren Händen
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