Auf der Sonnenseite - Roman
verlieh nur Werkzeuge. Halbe Stunde – fünf West- oder zwanzig Ostmark. Die östlichen Grenzpolizisten, in den letzten Wochen zusehends lockerer geworden, standen dabei, erzählten sich was oder scherzten mit den Passanten. War ja nicht ihre Mauer, die da so munter zu Volkseigentum erklärt wurde. Und wenn hier einer ein Geschäft machen wollte? Sollte er doch!
Auch Lenz gefiel dieser »Geschäftsmann«. Das lustige, stupsnasige Gesicht, die flinken Augen, die munteren Sprüche – »Leute, kloppt euch raus, wat ihr kloppen könnt. So ’ne schöne Mauer ham wa so schnell nich wieder im Anjebot!« –, es machte Spaß, ihm zuzuhören.
»Komm!« Hannah musste ihn fortziehen. »Will jetzt endlich mal durch dieses Tor gehen. Bevor irgendein Blödian es wieder verrammelt.«
Erst mal aber ging es nur an der Mauer entlang, hin zu einem der beiden Seiteneingänge, die links und rechts neben dem ehemals aus der Stadt heraus nach Brandenburg führenden Tor in den Beton gebrochen worden waren.
»Ihren Ausweis bitte!«
Kontrolliert wurde noch. Ein Grenzer mit einer Art Bauchladen vor der Brust, auf dem er Stempel und Papierchen bereithielt, drückte ihnen freundlich lächelnd zwei Zählkarten in die Hand. Einreisevisa und Zwangsumtausch von D-Mark in DDR-Mark waren nicht mehr nötig, Stempel und Zählung der »Eingereisten« aber mussten sein. Noch war man zwei Staaten.
Doch auch dieses Lächeln war neu. Waren das vielleicht gar keine echten Grenzer mehr, die da so gut gelaunt die Stempel schwangen? Waren es vielleicht nur Polizisten, die zuvor Jagd auf Einbrecher gemacht oder dafür gesorgt hatten, dass die Ampeln funktionierten?
Bereitwillig lächelte Lenz zurück. Wenn aus diesen bierernsten, zuvor allen Besuchern gegenüber eher feindselig eingestellten Grenzern über Nacht ein Verein der Lächler geworden war, ihm sollte es recht sein.
Dann – endlich! – das Tor aus allernächster Nähe. Sozusagen zum Anfassen. Zwischen vielen anderen Heiligabend-Bummlern standen sie, Hannah und Manfred Lenz, und betrachteten lange das hohe, wuchtige, von Scheinwerfern hell angestrahlte Bauwerk mit der ostwärts brausenden Quadriga. Danach traten sie langsam auf die Säulen zu, gingen zwischen ihnen hindurch und grinsten verlegen. War ja fast so etwas wie eine heilige Handlung, die sie hier zelebrierten. Obwohl – was war eigentlich so Besonderes daran, durch dieses Tor zu gehen? Die Geschichte, die es verkörperte? Wer schon mal auf der Akropolis gestanden, wer alte Inka-Städte durchwandert und Pompeji gesehen hatte, was sollte den beim Durchschreiten des Brandenburger Tores groß bewegen? Sechs Säulen voller Imponiergehabe, sehr breit, sehr hoch, sonst nichts.
Und doch ging an diesem Abend fast jeder nur mit sehr andächtigen Schritten durch dieses Tor. War ja alles vor wenigen Wochen noch völlig undenkbar gewesen. Das Unvorstellbare war Wirklichkeit geworden; wie sollte man da kein feierliches Gefühl verspüren?
Ein sehr viel jüngeres, offensichtlich frisch verliebtes Pärchen, sie klein, zierlich, brünett, er groß und blond, machte sich einen Spaß aus dem historischen Augenblick. Auf Zehenspitzen, so als wollte es sich anschleichen an dieses OstBerlin hinter der Mauer, trippelte es zwischen den Säulen hindurch, um gleich darauf zurückzulaufen und in weit ausgreifenden Paradeschritten den Weg zu wiederholen. Dabei kicherten und prusteten die beiden wie übermütige Kinder und liefen noch ein paarmal hin und her.
Eine Säule weiter streichelte ein graubärtiger Alter den kalten Stein. Behutsam glitten seine Finger darüber hinweg; fast so, als berühre er einen lange nicht mehr gesehenen Freund.
Wieder eine Säule weiter ritzten zwei Punk-Mädchen – eine trug eine angeleinte weiße Ratte auf der Schulter – mit einer Nagelfeile ihre Namen in den Stein.
»Wenn das nun jeder machen würde!«, empörte sich der Graubart.
»Au ja!« Das Mädchen mit der Ratte klatschte in die Hände, als hätte ihr der Alte einen ernsthaften Vorschlag gemacht. »Dit wird geil! Wer sich nich verewigt, darf nich rein.«
Sie lachten albern und das andere Mädchen zog eine Taschenflasche Schnaps aus ihrer schwarzen, mit vielen Ketten und Metallsternen verzierten Lederjacke und prostete dem Alten großzügig zu. »Prosit, Opa! Grüß die Oma und frohe Weihnachten denn ooch!«
Das junge Paar hatte sein Hin und Her inzwischen beendet. Eng umschlungen stand es vor dem Tor und küsste sich lange, so als wäre ein Kuss vor diesem
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