Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Wesen wie der seines Reittiers, kam mit jedem materiellen Hindernis, jedem störenden Gegenstand auf seinem Weg zurecht, indem er ihn sich einverleibte und sich seiner wie eines Knochengerüstes bediente, bis hin zum Türknopf, um den sich plötzlich und unwiderstehlich Golos roter Mantel legte oder sein bleiches Gesicht, immer gleich edel, gleich melancholisch, doch scheinbar unbeeindruckt von dieser Entrückung.« ( Unterwegs zu Swann [16], S. 17.)
Bei Michael Kleeberg: »Golos Körper selbst, aus dem gleichen übernatürlichen Stoff wie der seines Rosses, wurde mit jedem materiellen Hindernis, mit jedem störenden Gegenstand dadurch fertig, daß er es sich zum Knochengerüst machte, es sich sozusagen einverleibte, selbst den Türknopf, über den sich sogleich sein rotes Gewand schmiegte und als siegreiches Banner hinwegwehte, oder sein bleiches Gesicht, das noch immer so adlig und auch melancholisch wirkte und sich dabei keinerlei Verwirrung angesichts dieser Skelettverflüssigung anmerken ließ.« ( Combray , München, Verlagsbuchhandlung Liebeskind, 2002, S. 15-16.)
Proust liebt es, Abschnitte mit einer Pointe zu beschließen. Die Pointe besteht hier aus einem Neologismus; gleichzeitig ist der Neologismus qua Neologismus eine Pointe. Wie bei den vertèbres qui transparaissaient sur le front de tante Léonie spielt Proust mit Wörtern und Themen, die sowohl die körperliche als auch die geistige Sphäre betreffen können; er stellt die beiden Sphären nebeneinander: ossature und essence surnaturelle , le corps de Golo und (im folgenden Abschnitt) corps astral . In transvertébration sind die Rückenwirbel zwar gegenwärtig, doch werden sie durch die Vorsilbe trans in eine andere Sphäre versetzt, jeneder transverbération , der Transverberatio der hl. Teresa, der transfiguration , der Verklärung Christi auf dem Berg Thabor, oder der transsubstantiation , der Wandlung des Leibes Christi beim Abendmahl. Davon ist allerdings in Rückgratsdurchstoßung (Schottlaender), Rückgratsvertauschung (Rechel-Mertens) oder Skelettverflüssigung (Kleeberg) nichts zu spüren. In einer Probeübersetzung dieser Passage, die in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist, hatte ich deshalb den Neologismus beibehalten: Transvertebration , und zwar am Schluß des Abschnitts, als Pointe. Während jedoch in transvertébration Begriffe wie transverbération , transfiguration oder transsubstanciation ganz natürlich mitklingen, gelangt man im Deutschen nur auf dem Umweg über gelehrte Begriffe wie Transfiguration und Transsubstantiation zu Verklärung und Wandlung. Ein Leser der Neuen Zürcher Zeitung aus Deutschland hat dann die Lösung gefunden. Die Pointe lautet jetzt: doch scheinbar unbeeindruckt von dieser Entrückung . Da sie nicht von mir stammt, brauche ich nicht zu verschweigen, wie sehr mir diese zugleich physische und metaphysiche Lösung gefällt.
Mehrere revisorische Eingriffe in den Rechel-Mertensschen Text betreffen frühere Tischsitten und fremdländische Speisen, die den deutschen Übersetzern immer wieder Mühe zu bereiten scheinen. So werden die in einer Szene des Dramas des Zubettgehens nach dem Essen gereichten rince-bouches bei Eva Rechel-Mertens zu Likör , bei Michael Kleeberg zum Nachtrunk beziehungsweise zum parfümierten Wasser des Nachtrunks . Müßte ich mich für eines der beiden entscheiden, würde ich das Digestivum von Eva Rechel-Mertens dem Vomitivum von Michael Kleeberg vorziehen, übersetze aber rince-bouches , wie es schon Rudolf Schottlaender getan hat, mit Mundspülschalen . In derselben Szene ist von jenem speziellen Speiseeis die Rede, das im Französischen granité heißt und im Deutschen früher Granito, heute aber eher Granita genannt wird. Schottlaender konnte damit überhaupt nichts anfangen und setzte (in Anführungszeichen) »das Harte schlechthin«; bei Rechel-Mertens steht (ebenfalls in Anführungszeichen) »Granit«; bei Kleeberg (in Anführungszeichen) »Granité«, womit das Übersetzungsproblem nicht eigentlich gelöst ist.
Einen weiteren Anlaß zur Revision bot der dem Lauf der Jahreszeiten angepaßte Speisezettel in Combray. Unter den von Françoise besorgten und zubereiteten Köstlichkeiten figurieren une barbue , des cardons à la moelle und des groseilles ( Du côté de chez Swann [3], Bd. I, S. 70). Bei Eva Rechel-Mertens steht für barbue Barbe. Nun ist aber die Barbe ein karpfenähnlicher und wohl eher sumpfig schmeckender Fisch, die barbue jedoch ein Plattfisch, eine
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